Die Lutherverschwörung
räusperte sich. Da flogen ihm aus dem Nichts Gedanken zu, und Worte formten sich eigenmächtig. Niemand war darüber mehr erstaunt als er selbst.
»Der Vater des Königs«, fuhr er fort, »war ein schlimmer Herrscher gewesen und hatte das Volk ausbluten lassen. Nur seinen Günstlingen, den Schleimern und Ohrenbläsern, war es gut ergangen. Die lebten wie die Maden im Speck, während der Rest des Volkes am Hungertuch nagte; ja manche waren so arm, dass sie sich von Gras ernährten wie die Kühe. So war das einst mächtige Land schwach geworden und bedeutungslos. Als nun der Sohn an die Macht kam, erkannte er die Missstände und wusste um die Fehler, die sein Vater begangen hatte. Er beschloss, das Übel an der Wurzel zu packen und den ganzen Staat zu reformieren, koste es was es wolle.«
»Bis jetzt nicht schlecht«, sagte Luther. »Erzähle weiter!«
»Der neue König glaubte an die Macht der Wahrheit. Wenn ich das Volk und die Mächtigen überzeuge, so sagte er sich, wenn ich ihnen bedeute, was falsch ist, und ihnen den Weg in eine bessere Zukunft weise, dann wird Vernunft einkehren und alle werden an einem Strang ziehen. Dann nimmt das Staatswesen einen beispiellosen Aufschwung, und die Sache wendet sich zum Guten. Also beauftragte der junge König alle Buchdrucker im Land, seine Schriften zu verbreiten. Das waren kleine Heftlein, die zu Tausenden aus der Presse kamen und sich im ganzen Land verbreiteten, bis in die hintersten Winkel. Und wer selbst nicht lesen konnte, der ließ es sich von anderen vortragen.«
Luther lächelte. »Ich sehe schon, wohin der Hase läuft.«
»Wirklich? – Der neue König gefiel dem ausgebeuteten Volk, und es liebte ihn, weil er der Erste war, der die Wahrheit sprach. Aber der König hatte sich auch Feinde gemacht. Die einst Mächtigen, deren Reichtum und Einfluss schwanden, hassten ihn und trachteten ihm nach dem Leben. Ihr Hass war ebenso groß wie ihre Verschlagenheit und ihre List. Der König aber blieb arglos. Er wollte nicht auf den Rat seiner Freunde hören und derjenigen, die es gut mit ihm meinten. Sie wiesen ihn auf Gefahren hin, aber er schlug ihre Meinung in den Wind.«
»Das war nicht klug von ihm«, sagte Luther. »Aber warum schweigst du? Wie endet das Märchen?«
»Es hat noch kein Ende.«
Luther schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Märchen mit offenem Ende. Ein Märchen muss einen Anfang haben, dann über eine Kette von Ereignissen berichten und schließlich ein befriedigendes Ende finden, das die Bösen bestraft und die Guten belohnt. Sonst sind die Kinder beleidigt, sie kommen sich verulkt vor.«
»Was aber, wenn es sich um erwachsene Kinder handelt?«, fragte Jost.
»Was geschieht mit dem König?«
»Das weiß nur Gott. Alle, die ihn lieben, hoffen, dass er sein Ziel erreicht. Aber das ist ein dorniger Weg. Er muss vorsichtig sein. Es genügt nicht, dass er ein Herz aus Gold hat – er muss auch listig sein wie die Schlange!«
»Jetzt verlassen wir den Boden des Märchens endgültig«, sagte Luther. »Nun nähern wir uns der Fabel.«
»Martin!«
Luther wandte ihm ruckartig den Kopf zu und schaute ihm zum ersten Mal direkt in die Augen, wohl überrascht von der persönlichen Anrede.
Jost erhob sich. Er ging einige Schritte auf und ab. Dann blieb er genau vor Luther stehen. »Ich war im Krieg«, sagte er. »Ich habe Menschen getötet und Schuld auf mich geladen. Und ich habe an Fürstenhöfen gelebt. Ich kenne die Intrigen und die Niedertracht, zu der Menschen fähig sind, eben weil ich selbst kein Engel bin.«
»Das bin ich auch nicht!«
»Aber du hast eine hohe Berufung. Deine Aufgabe ist es, das Evangelium zu verbreiten. Doch brauchst du jemanden, der dir den Rücken freihält. Lass mich fürs Grobe zuständig sein! Das ist mein Beruf!«
Luther stand ebenfalls auf und reichte Jost die Hand. »Wir wollen es miteinander versuchen.«
KAPITEL 7
Das Gefühl einer Bedrohung war so vage, dass sie es nicht näher bestimmen konnte. Es kommt mir vor, dachte sie, als hätte der Himmel sich zwischenzeitlich ein wenig aufgehellt, und jetzt ziehen dunkle Wolken am Horizont auf – und sie sind noch unheilvoller.
Immerhin war es Anna gelungen, Lucas Cranach von ihren Vorschlägen zu überzeugen; sie diente ihm jetzt als Modell und gehörte wieder zur Familie, auch wenn Barbara ein saures Gesicht machte. Die unmittelbare Not war also vorerst abgewendet, aber darauf bezog sich ihre diffuse Angst nicht.
Sie horchte in sich hinein, sie beobachtete ihre
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