Die Lutherverschwörung
Gewohnheiten, seinem Ansehen in der Stadt erkundigt; jede Kleinigkeit, jedes Detail, mochte es auch noch so unbedeutend scheinen, konnte nützlich sein …
Wulf erreichte den Schankraum. Von der Treppe aus musste er sich nach links wenden, um die Küche zu erreichen, denn von dort (so hatte er herausbekommen) gab es einen Hinterausgang, den er offen lassen wollte. Er stieß gegen einen Tisch, aber vor Schreck über den Höllenlärm spürte er den Schmerz im Oberschenkel kaum. Hatte er die Orientierung verloren? Es war zu finster, um Gegenstände auch nur erahnen zu können, also musste er sich auf das verlassen, was er beobachtet hatte – und seinem Gedächtnis zufolge durfte hier kein Tisch stehen!
Im Haus rührte sich nichts. Wulf war wütend auf sich selbst, beinahe hätte seine Unachtsamkeit alles verdorben. Wulf tastete sich weiter voran und fand die Tür zur Küche. Es roch nach ranzigem Fett. Er bekam eine Tischkante zu fassen; fast hätte er sich an der scharfen Klinge eines Messers geschnitten. Er erreichte den Hinterausgang, öffnete ihn, trat hinaus und lehnte die Tür an. Die kalte Luft einer klaren Winternacht schnitt ihm ins Gesicht. Die Schneewolken hatten sich weitgehend verzogen, und der zu drei Vierteln volle Mond tauchte die Gassen und Häuser in ein bläulichweißes Licht. Ein Schatten erschreckte Wulf, doch es war nur eine Katze, die mit hoch aufgerichtetem Schwanz um seine Beine strich. Er beugte sich hinunter und kraulte ihren Nacken; Katzen waren ihm lieber als Menschen.
Wulf fasste in seine Hosentasche und knisterte mit einem Stück Papier, das sich dort verbarg. Es wäre nicht nötig gewesen, es mitzunehmen, aber es gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Den lateinischen Namen, auf den es ankam, wusste er auswendig. Der Verfasser des Buches, aus dem die Seite stammte, ein gewisser Paracelsus, war ein weit gereister Mann, der über enorme Naturkenntnisse verfügte. So hatte er den Begriff »Gift« neu definiert: Danach konnte alles ein Gift sein; es kam nur auf die Dosierung an. Eine Substanz, die in geringen Mengen heilsame Wirkung entfaltete, konnte tödlich sein, wenn man zu viel davon nahm. Wulf hatte aus dem Buch gelernt, dass nicht nur Pflanzen (wie er bisher geglaubt hatte) Giftstoffe enthielten, sie waren auch in Mineralien zu finden.
Wulf betrachtete im Mondlicht die Fassaden der Gebäude, die zum Cranachhof gehörten. Das große Hoftor war verschlossen. Er ging zur Eingangstür der Apotheke und fuhr mit den Fingern über das Metallschloss. Mit der Mechanik von Schlössern kannte er sich aus, schließlich war sein Vater Schmied gewesen. Er zog unter seinem Mantel einen Beutel hervor, in dem sich die erforderlichen Werkzeuge befanden. Mehr Sorgen als die Verriegelung bereitete ihm die Tatsache, dass er momentan völlig exponiert vor der Tür stand. Wenn in einem der Nachbarhäuser jemand aus dem Fenster schaute, würde man ihn entdecken. Auch vor dem Nachtwächter musste er auf der Hut sein, obwohl die Wirtin erzählt hatte, dieser nehme seine Aufgabe nicht ernst und sitze lieber im Warmen bei einem Krug Bier; aber darauf konnte er sich nicht verlassen.
Das Schloss bereitete mehr Probleme als erwartet. Wulf brach der Schweiß aus, trotz der Winterkälte. Endlich schnappte der Mechanismus, und er schob die knarrende Tür auf. Als er sich im Raum befand, schloss er sie wieder. Wulf sah die Hand vor Augen nicht, hatte aber eine Öllampe mitgebracht und die Gerätschaften, die er brauchte, um eine Flamme in Gang zu bringen. Im Finstern war das nicht einfach, und als die Lampe endlich brannte, fuhr sich Wulf über die feuchte Stirn.
Er schaute sich um: Schmuckstück der kleinen Apotheke war ein bis zur Decke reichender Schrank, dessen offenes Oberteil vier Regalbretter umfasste, während im vorspringenden Unterteil Schubfächer untergebracht waren; Wulf zählte vier Reihen zu je zehn Laden. Auf den Regalen drängten sich Glas-und Tongefäße verschiedenster Form und Größe, und an einer eigens für diesen Zweck konstruierten Leiste hingen Phiolen. Auf einem mächtigen Holztisch in der Mitte des Raums standen Schalen mit Farben, gestoßenen Gewürzen, Zucker, Konfekt und gefärbtem Wachs; ein Krug enthielt – dem Geruch nach zu urteilen – süßlichen Wein. Die Wirtin hatte berichtet, dass Cranach das verbriefte Recht besaß, in seiner Apotheke Wein auszuschenken.
Wulf trat dicht vor den Schrank. Hier roch es wieder ganz anders; er hätte nicht sagen können, wonach. Viele
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