Die Lutherverschwörung
kümmern!«
Judith ging davon.
»Beeil dich, Anna, sie rufen nach Wein«, sagte Barbara und kehrte zu ihren Gästen zurück. Anna füllte den kleinen Krug und trug ihn eilig hinüber. Der Buchdrucker Hans Lufft streckte schon die Hand danach aus und füllte seinen eigenen Becher und den des Lizenziaten Nikolaus von Amsdorf, der ein Ordensfreund Luthers war.
Kurz darauf war Anna allein in der Küche, sie tupfte sich mit dem Handrücken gegen die Stirn. Zum ersten Mal an diesem Abend hatte sie eine reelle Chance, aber die Aufgabe war noch immer schwierig. Sie konnte das Pulver nicht in den Krug schütten, von dem auch Lucas und andere tranken. Das Gift musste in Luthers Becher! Anna hielt sich die Hände vors Gesicht, und als sie die Augen öffnete, sah sie verschwommen, dass jemand in der Tür stand. Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen, als sei sie müde.
»Fehlt Wein?«
Jost Gessner schüttelte den Kopf. »Ich wollte nur sehen, wie es Euch geht.«
»Da habt Ihr einen schlechten Moment ausgesucht.«
»Macht eine Pause. Es sind alle versorgt.«
Am liebsten hätte sie ihn hinausgeworfen, denn ihre Nerven lagen blank, aber sie durfte jetzt keinen Fehler begehen. Er schaute ihr forschend in die Augen. Bemerkte er, dass sie geweint hatte?
»Werdet Ihr Luther nach Worms begleiten?«, fragte Anna.
Er nickte. »Wir brechen morgen auf. Ich habe kein gutes Gefühl, unterwegs kann so viel passieren!«
Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, ihm alles zu enthüllen. Aber nein, sie durfte nicht den Kopf verlieren. Sie wechselten ein paar belanglose Worte, und endlich ging er zurück zu den anderen. Die ersten Gäste verabschiedeten sich. Als Anna neuen Wein brachte, war ihre Zahl auf ungefähr vierzig zusammengeschrumpft. Bei einigen zeigte der Wein bereits deutliche Wirkung. Der Apotheker hatte Nikolaus von Amsdorf den Arm um die Schulter gelegt und lallte ihm etwas ins Ohr. Die meisten Gäste aber hörten Luther zu, der von seiner Romreise erzählte. Anna ging in die Küche zurück und beobachtete von dort aus das Geschehen. Auch Barbara Cranach hatte tief in den Becher geschaut, wie ihre roten Wangen verrieten.
»Ich habe Rom in jungen Jahren verklärt«, sagte Luther. »Es war für mich der heiligste Ort im Abendland. Hier hatten unzählige Märtyrer ihr Blut vergossen. Ich warf mich zu Boden, als ich die Stadt zum ersten Mal aus der Ferne sah. Doch bald kamen mir erste Zweifel …«
Anna überschlug ihre Chancen, aber sie wollte noch ein wenig warten. Sie hoffte, dass ein kleiner Kreis um Luther zurückblieb und alle zu tief ins Glas geschaut hatten. Ihre Schläfen pochten, als sei ihr Kopf eine Hammermühle.
»Es war nicht mal das weltliche Treiben der Stadtbewohner«, sagte Luther gerade, »das mich entsetzte. Die Sitten und Laster dieser Stadt glichen jenen, wie man sie überall in der Welt antrifft. Damit hätte ich mich abfinden können …«
Irgendwann hielten sich kaum mehr als zwanzig Leute im Raum auf; es ging bereits auf Mitternacht zu. Anna beschloss, nun an Luthers Tisch zu gehen und nachzuschenken, denn alle waren von seinen Anekdoten abgelenkt. Sie griff nach dem Ledersäckchen in ihrer Rocktasche, schob es unter den umgeschlagenen Ärmel ihrer Jacke und trat ins Gastzimmer. Einzig Kerzen sorgten für Licht, sie waren heruntergebrannt, und alle Gegenstände warfen lange Schatten. Auch in Luthers Nähe standen zwei Kerzen.
»Was mich entsetzte«, sagte Luther gerade und wackelte mit beiden Händen vor seinem Gesicht, sodass die Schatten seiner Finger an der weiß getünchten Wand hinter ihm wie Krallen wirkten, »war das Verhalten der Priester. Man sollte vermuten, sie seien dort gebildeter und frommer – aber das Gegenteil war der Fall. Nie habe ich erlebt, dass man die Messe so seelenlos und oberflächlich zelebrierte wie in den berühmtesten und heiligsten Kirchen Roms. Ich fragte mich, ob das überhaupt Priester waren. Hatte man die Messgewänder vielleicht Wasserträgern oder Tagelöhnern übergestreift?«
Anna näherte sich dem Tisch. Barbara Cranach schaute auf und auch Jost Gessners Blick haftete auf ihr. »Und das Schlimmste war«, rief Luther, »was für ein schreckliches Latein die Burschen sprachen. Man stelle sich das vor: in Rom!«
Anna füllte Cranachs Becher mit Wein, stellte ihn zurück auf den Tisch, und Lucas nickte ihr geistesabwesend zu. Barbara hob abwehrend die Hand. Gerade in diesem Moment geriet Luther in Wut und zog mit glühenden Worten über die
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