Die Lutherverschwörung
sonst? Gott war schuld an ihrem Leid! Hatte er Freude daran, sie zu quälen? Er war ein rächender, bösartiger Gott – der Gott des Alten Testaments, der ohne ersichtlichen Grund Hiob gequält und gedemütigt hatte. Angeblich, um ihn zu prüfen. Aber was für eine verdammte Prüfung war das, einem Menschen, der gerecht lebte, alles zu rauben – den Besitz, die Familie, die Gesundheit –, nur um zu sehen, ob er standhaft blieb in seinem Glauben?! Auf so eine Prüfung, ja auf so einen Gott konnte sie verzichten!
Ihre Mutter hatte sie gelehrt, zu beten und zu glauben, und der Vater hatte ihr Geschichten aus der Bibel vorgelesen. Sicher war es kein Zufall, dass sie gerade jetzt an die Vertreibung aus dem Paradies denken musste, an jenen drohenden Engel mit dem mächtigen Schwert, der Adam und Eva, die gesündigt hatten, aus dem Garten Eden wies. Auch sie und Martha waren nun aus dem Paradies vertrieben. Aber weshalb? Hatte sie eine besonders schlimme Sünde begangen? Ihr war nichts bewusst. Und ein Kind von sechs oder sieben Jahren … Das alles machte keinen Sinn.
Diese Gedanken ängstigten sie. Sie entdeckte Abgründe in ihrer Seele, von denen sie bislang nichts ahnte. Aber jammern nutzte nichts und Bitterkeit auch nicht. Schließlich, so dachte sie, kann er mir eins nicht nehmen, nämlich die Erinnerung an die schönen Stunden. Die lebten in ihr weiter. Sie dachte an die letzte Nacht mit Berthold. Als ob sie vorausgeahnt hätten, was geschehen würde, hatten sie sich in dieser Nacht so zärtlich, so leidenschaftlich geliebt wie vielleicht nie zuvor.
Schritte auf der Treppe rissen sie aus ihrem Wachtraum. Martha kam ins Zimmer.
»Du bist früh zurück«, sagte Anna.
Martha wollte wissen, worüber sie mit Onkel Lucas geredet habe. Sie wusste also von dem Gespräch, obwohl Anna ihr nichts gesagt hatte, um sie nicht zu ängstigen. Aber Martha spürte genau, was vor sich ging.
Anna sagte, sie seien unterbrochen worden. Sie werde später noch einmal mit ihm reden. »Weißt du, Martha, es geht um unsere Zukunft. Vielleicht müssen wir weg von hier.«
»Ich will aber nicht weg!«
»Ich auch nicht.«
Es musste doch einen Weg geben, Lucas zu überzeugen. Es gab immer einen Weg, wenn man wirklich danach suchte – oder nicht? Da kam ihr ein Gedanke. Was gab es schon zu verlieren? Sie musste es nur richtig anpacken …
KAPITEL 2
Man nannte die Einrichtung beschönigend »Badehaus«. Jost Gessner betrat das windschiefe Fachwerkgebäude wie ein alter Freund der Familie. In einem Raum mit einem mächtigen Kachelofen saßen fünf Frauen, die ihre Stühle um einen niedrigen Tisch geschoben hatten und Karten spielten.
»Und das … und das … und das!«, rief eine der Frauen, die auffallend mager war, begeistert und warf mit jedem Ausruf eine Karte auf den Tisch.
»Das gibt es doch nicht«, erwiderte eine gut genährte Rothaarige und legte entmutigt das Blatt, das sie in der Hand hielt, auf die Holzplatte. Die anderen Frauen folgten ihrem Beispiel. »Kann das denn mit rechten Dingen zugehen? Das ist das vierte Spiel hintereinander, das sie gewinnt.«
Die Angesprochene verzog das Gesicht. »Du bist ja nur neidisch, blöde Kuh. Du kannst ja selbst mit vier Buben auf der Hand nichts anfangen.«
»Mit vier Buben könnte ich eine ganze Menge anfangen«, widersprach die Rothaarige selbstbewusst.
Jost räusperte sich und sie schauten überrascht in seine Richtung. »Na, ihr Hübschen«, sagte er (und auch das mochte beschönigend sein). »Wo habt ihr denn die Mutter der Kompanie gelassen?«
»Die bedient gerade einen Kunden.«
Jost zog überrascht die Brauen hoch. Dann wolle er auf sie warten. Er setzte sich auf einen Hocker und betrachtete seine Stiefel.
Was mit ihm los sei, fragte die Magere, die ein blassgelbes, fleckiges Kleid trug, die Schnüre über der Brust gewohnheitsmäßig gelöst.
»Was soll los sein?« Er schaute nicht auf. »Will nur kurz guten Tag sagen.«
»So nennt man das also neuerdings.«
Jost fragte, wie die Geschäfte so liefen.
»Sehr schleppend«, seufzte die Rothaarige. »Die Kerle halten Winterschlaf.«
Sie wechselten noch ein paar Worte, dann war es still im Raum, abgesehen vom Ofen, in dem es knackte und knisterte. Jost starrte noch immer auf seine Stiefelspitzen, und die Mädchen blickten sich fragend an.
Er war mit seinen Gedanken weit weg bei einem Gespräch, das noch nicht lange zurücklag. Wie lange arbeitete er mittlerweile für den Kurfürsten? Zum ersten Mal hatte er mit ihm
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