Die Lutherverschwörung
man über die Qualität der Waren und feilschte um den Preis in einem eingeschliffenen, geschäftsmäßigen Ton, einem Ritual vergleichbar.
Vor dem Geschlechterturm, Wulfs ehemaliger Unterkunft, stand ein Karren, voll beladen mit prall gefüllten Säcken. Ein Fuhrmann, auf dem Karren stehend, weit nach vorn gebeugt, befestigte gerade ein Seil an einem der Säcke. Nun konnte Wulf der Versuchung nicht widerstehen: Er schob seine rote Kapuze ein Stück zurück und hob vorsichtig den Kopf. Wie vermutet, führte das Seil hinauf zum Obergeschoss, wo er übernachtet hatte. Dort schaute jemand aus dem Fenster und hielt das andere Ende des Seiles, das über eine Metallrolle lief, in Händen. Er senkte wieder den Kopf, sah aber trotzdem, wie sich der Sack vom Karren löste und in die Luft hob.
Ein Getreidesack müsste ich sein, dachte Wulf, dann wäre es leicht, dort hochzukommen; in den Kornspeicher, direkt gegenüber der Aula Major. Dort oben hätte er Luther wie auf dem Präsentierteller vor sich. Viel Zeit blieb nicht mehr, aber er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Er senkte den Kopf noch tiefer, schloss die Augen und bat die Schwarze Jungfrau um ihren Beistand. Als er die Augen wieder öffnete und den Kopf ein wenig anhob, sah er den Fuhrmann von seinem Karren steigen. Der stämmige Mann legte den Kopf in den Nacken und schaute nach oben. »Das war’s!«, brüllte er.
»Wie – das war’s!«, schallte es im gleichen Tonfall zurück.
»Fünf Sack Hafer.«
»Und was, verdammt noch mal, ist mit dem Roggen?«
»Roggen? Was für Roggen?«
»Du Hohlkopf!«, schrie der Mann im obersten Stockwerk und Wulf sah im Geist, wie er den Kopf weit aus dem Fenster lehnte und seine Aussage durch Gesten bekräftigte. »Wir haben außer dem Hafer auch fünf Sack Roggen bestellt!«
»Roggen? Davon war nie die Rede!«
»Du schaffst jetzt sofort fünf Sack Roggen her – oder du warst die längste Zeit unser Lieferant!«
Der Fuhrmann murmelte etwas vor sich hin über die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen und die Bosheit der Menschen im Besonderen, versetzte dem Ochsen, der vor den Karren gespannt war, einen Stockschlag, und das Gefährt entfernte sich. Wulf folgte ihm.
Der Karren bog zweimal um die Ecke und hielt vor einem Fachwerkhaus, dessen Türen und Läden im Erdgeschoss offen standen. Eine Frau füllte mit einem Scheffel Getreide aus Säcken in Holzeimer, sie schaute auf. »Bist du schon zurück? Das ging aber schnell.«
»Ich brauche noch fünf Sack Roggen.«
Die Frau schüttelte den Kopf und arbeitete weiter, während der Mann im Haus verschwand. Sie hatte Wulf, der auf der Straße neben dem Karren stand, bisher nicht bemerkt. In diesem Moment sandte ihm die Jungfrau, einem Wunder gleich, die entscheidende Idee. Wulf wartete geduldig, bis der Mann zurückkam, gebeugt von der schweren Last eines Getreidesackes auf seiner rechten Schulter. Er trat neben den Karren und ließ das Gewicht von seiner Schulter auf die Ladefläche gleiten, fuhr sich dann mit seiner staubigen Hand über die feuchte Stirn – und sah Wulf, der den Kopf noch immer gesenkt hielt.
»Na, mein Kleiner«, sagte er. »Was hast du denn? Bist du traurig?«
»Wollt Ihr Euch drei Gulden verdienen?«
Der Getreidehändler lachte. »Weißt du denn, wie viel das ist: ein Gulden? Hast du schon mal einen in der Hand gehalten?«
Wulf streckte seine Hand aus, auf deren Innenfläche drei Silbermünzen lagen. Seltsamerweise lachte der Mann nun nicht mehr. »Wo hast du die her?«, fragte er. »Wo hast du das Geld gestohlen?«
Statt einer Antwort hob Wulf den Kopf, schob sich die Kapuze in die Stirn und betrachtete zum ersten Mal sein Gegenüber genauer: Der Mann war klein und kugelrund, sein Gesicht rot von der Anstrengung. Er hob überrascht die Brauen. »Oh, verzeiht! Ich hielt Euch für ein Kind. Seid Ihr ein Gaukler?«
»Ihr habt es erraten«, erwiderte Wulf. »Wisst Ihr, es geht um einen kleinen, harmlosen Scherz.«
»Der Euch drei Silberlinge wert ist?«
»Was sind schon drei Gulden? Wollt Ihr mir helfen? Ich möchte mich in einem Eurer Säcke verstecken.«
Der Mann lachte schon wieder.
»Was ist?«, rief die Frau von drinnen. »Mit wem redest du?«
»Ach, nichts«, rief er, »da ist nur ein Kind.« Leise fragte er Wulf, ob er ihn zum Narren halten wolle. Wulf hielt ihm immer noch die Münzen entgegen und forderte ihn auf, endlich sein Geld zu nehmen. »Oder wollt Ihr warten, bis mir die Hand verdorrt?«
Der Mann zögerte, Wulf beobachtete
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