Die Macht der Steine
Wiederauferstehung befand, überflutet werden.
Die Monitore zeigten eine mehrere hundert Quadratkilometer große Packeisfläche, gefolgt von einer festen weißen Eiskante, die den Kontinent Brisbane markierte. Es waren Pearsons Kolonisten gewesen, die diese Namen vergeben hatten – Brisbane, Asgard, Scott und Amundsen. Legitimerweise, so überlegte Kahn, hätte das Bifrost – was immer es auch darstellen mochte – auf Asgard konstruiert werden müssen, aber jener Kontinent befand sich noch weiter südlich und wurde von einer zwei Kilometer dicken Eisschicht bedeckt, die noch immer kaum von der Sonne erwärmt wurde. Thule, die einzige antarktische Stadt, war in Brisbane errichtet worden. Das Thule-Projekt mußte dem echten Kahn einige Schwierigkeiten bereitet haben, isoliert wie die Stadt war; offensichtlich hatte er aber kaum eine andere Wahl gehabt.
Im Sonnenuntergang machte Kahn das Turmspitzen-Triplett aus. Das Flugzeug ging in den Sinkflug. Bei fünftausend Metern wurde es von Turbulenzen durchgeschüttelt. Die Stabilisatoren aktivierten sich und neutralisierten die Störung. Thule wuchs auf dem sich verdunkelnden Land und glitzerte im fahlen gelben Glühen wie ein Palast aus Glas und Eis.
Thule war von Jemmu Yoshimura regiert worden, dem Präsidenten der asiatischen Juden, einem zähen kleinen Rabbi, in dessen Adern fast kein japanisches Blut floß, der dafür aber von einer angesehenen Familie abstammte. Von den Turmspitzen abgesehen, hatte Thule sich nicht wesentlich verändert und lebte anscheinend noch. Die zwölf Außentürme der Stadt leuchteten wie ein Hologramm in unterschiedlichen Farben, je nach Perspektive des Betrachters. Der Zentraltempel – welcher der östlichsten Spitze zum Teil als Basis diente – war noch genauso komplex und faszinierend wie damals, als Kahn ihn vollendet hatte, ein kalter, sich der Stadt überstülpender Krake.
Kahns Gesicht und die Kabine wurden in das vom Tempel reflektierte Sonnenlicht getaucht.
Die Stadt lag inmitten einer flachen verschneiten Ebene, die von Straßen durchzogen wurde, welche zu einem nicht mehr existierenden Hafen führten. Die Randbezirke der Stadt hatten ihre Funktion augenscheinlich eingestellt, aber im Umkreis von einem Kilometer bildete der Schnee nur einen dünnen Überzug statt einer dicken Decke; Thules bionischer Klimagenerator milderte noch immer die Kälte und die Stürme.
In einer Höhe von dreitausend Metern führte das von Kahn gesteuerte Flugzeug eine Kursänderung durch.
Der Schnee und das Eis waren mit schwarzen Flecken übersät.
»Die Stadtgrenze wird überflogen«, meldete das Flugzeug in schleppendem Tonfall.
»Doppelte Warteschleife und langsamer Sinkflug«, wies Kahn die Maschine an. In einem weiten Kreis überflogen sie gemächlich die Schneefläche innerhalb der Stadtgrenze von Thule.
Die Flecken waren Körper. Bei einigen handelte es sich um verkrümmte und demontierte Cyborgs, die in Lachen aus Stadt-Flüssigkeit lagen. Das Schlachtfeld – diesen Eindruck vermittelte das Gelände nämlich – erstreckte sich direkt bis zu dem wohlbekannten Kreis aus Silikat-Stacheln. Unter der Überdachung des Stadtrandes lagen die Körper, wo sie gefallen waren, gefroren, aber nicht von Schnee bedeckt.
»Schalte mir eine Verbindung«, sagte Kahn. »Ich bin der Architekt…« Er wiederholte den Spruch zweimal.
Dann ertönte die Stimme der Stadt, hochtönend und fast melodisch, verführerisch einlullend: »Willkommen, Pontifex.«
Kahn hob eine Augenbraue. »Ich bin nicht der Papst«, stellte er richtig. »Mach eine vernünftige Meldung.«
»Du bist der Erbauer von Brücken, also bist du der Pontifex. Du bist auch Archon«, behauptete die Stimme von Thule.
Kahn lehnte sich zurück und schaute seine Passagiere an. »Wovon, zum Teufel, redet die Stadt da? Jeshua, du scheinst dich doch mit solchen Sachen auszukennen…«
»Pontifex bedeutet Brückenbauer, glaube ich. Archon ist eine Art Demiurg.«
»Ach ja? Und was ist ein Demiurg?«
»Der Herr der Schattenwelt, der zwischen dem wahren Gott und der Menschheit steht.«
»Ich verstehe.« Gnostische Doktrin, dachte er. Die Vorstellung, sich in eine derart verschrobene Stadt zu begeben, behagte ihm nicht.
Das Flugzeug verlangsamte seine Geschwindigkeit weiter, wobei die Düsen die Luft mit einem leisen Zischen ausstießen, und landete schließlich auf einem glitzernden, himmelblauen Landedeck. An einem Ende des Flugdecks hingen große, lichtabsorbierende Banner schlaff an
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