Die Macht der Steine
Familienschmuck und solchen für rituelle Anlässe anzufertigen. Sein Gewerbe hatte ihm den Zunamen Tubal eingetragen – Jeshua Tubal Iben Daod, Spezialist für alle Metalle.
Die Stadt in der Ebene marschierte in Richtung des Arat-Massivs. Sie bewegte sich absolut synchron. Städte wanderten nur selten mehr als hundert Meilen am Stück oder mehr als einmal in hundert Jahren – so sagten die Legenden –, aber nun waren sie anscheinend rastloser geworden.
Er rieb sich den Rücken am Baumstamm und verstaute dann das Fernglas in einer Beintasche. Er schlüpfte in die Sandalen, die er auf den bemoosten Dschungelboden hatte fallen lassen, stand auf und streckte sich. Er spürte die Anwesenheit einer anderen Entität hinter ihm, drehte sich jedoch nicht um, obwohl seine Nackenmuskulatur sich verkrampfte.
»Jeshua.« Es war der Kommandeur der Wache und der Rat der Gesetze, Sam Daniel der Katholik. Sein Vater und Sam Daniel waren Freunde gewesen, bevor sein Vater verschwand. »Es ist an der Zeit, daß das Synedrium zusammenkommt.«
Jeshua zog die Sandalenriemen stramm und folgte ihm.
Bethel-Japhet war ein Dorf von bescheidener Größe mit etwa zweitausend Einwohnern. Seine Häuser und sonstigen Gebäude waren ohne eine klar definierte Grenze im Dschungel verstreut. Die zum Synedrium führende gepflasterte Straße kam Jeshua zu kurz vor, und die Menge in der Versammlungshalle war viel zu groß. Seine Braut, Kisa, Tochter des Jake, war nicht anwesend, dafür jedoch sein Nebenbuhler, Renold Mosha Iben Yitshok.
Der Repräsentant der siebzig Richter, der Septuagint, rief die Versammlung zur Ordnung und ließ sich die Details des zur Verhandlung anstehenden Falles vortragen.
»Sohn des David«, sagte Renold, »ich bin gekommen, um dein Verlöbnis mit Kisa, Tochter des Jake, anzufechten.«
»Ich höre«, erwiderte Jeshua und nahm auf der Anklagebank Platz.
»Ich habe Gründe für meine Anklage. Willst du sie hören?«
Jeshua antwortete nicht.
»Entschuldige meine Beharrlichkeit. Es ist das Gesetz. Ich habe nichts gegen dich – ich erinnere mich noch an unsere Kindheit, als wir zusammen spielten –, aber nun sind wir erwachsen, und die Zeit ist gekommen.«
»Dann sprich.« Jeshua zupfte an seinem dichten, dunklen Bart. Sein jetzt geröteter Teint hatte die Farbe des feinen Sandes am Ufer des Hebron angenommen. Er überragte den schlanken und geschmeidigen Renold um einen guten Fuß.
»Jeshua, du bist ein Mensch wie andere auch, aber du bist nicht so aufgewachsen wie wir. Du siehst zwar wie ein Mann aus, aber das Synedrium besitzt Unterlagen über deine Entwicklung. Du kannst nicht in den Stand der Ehe eintreten. Du bist nämlich nicht imstande, mit Kisa ein Kind zu zeugen. Dies annulliert dein Kindheitsverlöbnis. Durch das Gesetz und aufgrund meines eigenen Wunsches muß ich an deine Stelle treten und deine Verpflichtungen ihr gegenüber erfüllen.«
Kisa würde nie etwas davon erfahren. Niemand würde es ihr sagen. Sie würde Renold mit der Zeit akzeptieren und lieben lernen und Jeshua nur als weiteren Mann in Erinnerung behalten, der allein und unverheiratet war. Ihr schlanker warmer Körper mit der Haut, die so weich war wie das feinste Baumwollgewebe, würde bald unter dem Mann liegen, den er jetzt vor sich sah. Sie würde Renolds Rücken umklammern und von der Zeit träumen, in der den Menschen wieder Einlaß in die Städte gewährt wurde, der Himmel wieder voller Schiffe war und Gott-der- Schlachtenlenker erlöst werden würde…
»Ich kann darauf nicht antworten, Renold Mosha Iben Yitshok.«
»Dann wirst du das hier unterzeichnen.« Renold brachte ein Blatt Papier zum Vorschein und trat auf ihn zu.
»Es wäre nicht nötig gewesen, diese Sache publik zu machen«, monierte Jeshua. »Warum hat das Synedrium beschlossen, mich in aller Öffentlichkeit zu beschämen?« Er schaute sich mit Tränen in den Augen um. Er hatte noch nie zuvor geweint, nicht einmal, als sein Vater ins Lagerfeuer gefallen war – zumindest hatte sein Vater ihm das erzählt.
Er stöhnte auf. Renold trat zurück und schaute gequält hoch. »Es tut mir leid, Jeshua. Bitte unterschreibe. Wenn du Kisa oder mich oder die Expolis liebst, unterschreibe.«
Ein Schrei entrang sich Jeshuas mächtiger Brust. Renold machte kehrt und floh. Jeshua ließ die Faust auf das Geländer krachen, schlug sich auf die Stirn und zerriß sein Hemd. Er verkraftete es nicht mehr. Seit neun Jahren wußte er nun schon von seiner Behinderung, aber er hatte
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