Die Macht des Feuers
Stocksteif stand er da, das Gesicht unbewegt, wie gemeißelt, die grauen Augen blicklos und starr wie die eines Toten. Sein Mund war zu einem stummen Schrei verzerrt, und auch wenn es aussah, als wäre er tot, als hätte der Odem Gottes seinen Leib verlas-sen, lebte er, wie Nod feststellte, als er zögernd einen Schritt nähertrat. Die Brust des Mönchs hob und senkte sich unter der Kutte kaum merklich. Es war, als ob Agbar sich in einer Art Trance befand, in einem Zustand, der irgendwo zwischen Schlaf und Tod lag.
Er wirkte wie eine Statue aus Fleisch und Blut.
Nicht ganz tot - aber auch nicht lebendig .
*
Nod stöhnte. Ein verhaltenes Zittern lief durch den Körper des jungen Mönchs, als er hastig die nächste Nische untersuchte und darin Hasrun entdeckte, der ebenso reglos wie Agbar dastand und ins Leere starrte. Sein Geist schien weit fort zu sein, in Dimensionen zu schweben, die für Nod unerreichbar fern waren.
Es überraschte Nod kaum, daß die übrigen Nischen längs der Wand mit den übrigen seiner Brüder belegt waren. Giovanni, Ban-zai, Soli . Sie waren alle da - und keiner von ihnen schien mitzubekommen, was um ihn herum vorging. Als ob irgend etwas sich der Hüter bemächtigt hatte und sie in seinem Bann gefangen hielt.
Irgend etwas .
Aber was?
Die Antwort auf diese Frage erhielt der verwirrte Nod, als er unversehens erkannte, daß nicht nur mit seinen Brüdern eine unheilvolle Veränderung vorgegangen war - sondern auch mit dem Tor!
Benommen starrte er das gewaltige Portal an.
Die zahlreichen Riegel und Schlösser, die das Tor sicherten, waren dabei zu schmelzen, zu zerlaufen wie Butter in der Sonne. Blei und Eisen tropften wie silbergraue, dampfende Tränen zu Boden, flossen am Holz hinab. Gleichzeitig quoll aus dem Großen Siegel, dem Hauptschloß des Portals, eine glutflüssige, rotgoldene, magmaähnliche Masse, die von einem sonderbaren, grellweißen Flimmern umgeben war.
Fassungslos beobachtete Nod, wie die Substanz an dem Schloß einen Klumpen von der Größe einer Faust bildete und sich dann zu verformen begann, sich bog und streckte, als ob unsichtbare Hände damit modellieren würden, bis sich aus der rotglühenden Masse schließlich etwas herausbildete.
Ein... Schlüssel!
Ein Schlüssel aus flüssig-festem Magma - der exakt ins Große Siegel paßte, der nur darauf zu warten schien, daß man ihn in die Öffnung des Siegels steckte und drehte. Ein pulsierendes, rötliches Leuchten wie von Kohleglut ging von dem Schlüssel aus, der sich auf so eigenartige Weise materialisiert hatte, während die übrigen Riegel und Schlösser des Portals weiter dahinschmolzen wie Eis in der Sonne. Es sah aus, als würde er irgendwie ... leben.
Es war ein erschreckender Anblick. Gleichwohl konnte Nod seine Augen nicht davon abwenden. Mit stark erweiterten Pupillen, als würde er unter Schock oder Trance stehen, starrte der junge Mönch den Magmaschlüssel an. Gleichzeitig spürte er, wie das Gefühl der Angst, das ihn bei seinem Weg durch das Labyrinth nach unten in die Innere Halle befallen hatte, verschwand. Es verflüchtigte sich wie Frühnebel, der von den warmen Strahlen der Morgensonne verdunstet wird, und machte einer seltsamen, jedoch nicht unangenehmen Lethargie Platz, die sich wie eine schwere Decke über Nod herabsenkte.
Plötzlich war der junge Mönch vollkommen ruhig. Alle Gedanken daran, was hier vor sich gehen mochte, waren aus seinem Kopf verbannt. Sein Gehirn war so leer wie ein ausgewrungener Schwamm.
Nod hatte nur noch Augen für den Schlüssel.
Was würde geschehen, wenn er ihn im Schloß drehte?
Würde sich das Tor auftun und sein Geheimnis enthüllen?
Nod setzte sich in Bewegung und schritt auf das gewaltige Portal zu, das vor ihm wie eine Wand in die Höhe ragte. Als er nach dem Schlüssel griff, hatte das Zittern seiner Finger aufgehört. Da war kei-ne Furcht mehr in Nod, nur noch Faszination und Neugierde.
Langsam, wie in Trance, schloß der Mönch beide Hände um den Magmaschlüssel, von dem eine pulsierende Wärme ausging wie von einem schlagenden Herzen. In derselben Sekunde spürte er, wie ihn eine Woge der Kraft durchströmte, wie Energie durch seinen Körper pumpte und die sonderbare Lethargie vertrieb. Ein leises Lachen entkam Nods Lippen, als er den Schlüssel in die Öffnung des Siegels schob.
In diesem Augenblick wurden hinter ihm auf einmal Schritte laut, die hastig die Halle durchquerten, und jemand rief voller Panik in der Stimme: »Bei Gott, dem
Weitere Kostenlose Bücher