Die Macht des Schmetterlings
Polizistin zurück. »Die Jetlink Alliance hat einen Direktflug nach Moskau, der eine halbe Stunde später startet. Ich habe mir erlaubt, die Auslastung zu prüfen, und es gibt tatsächlich noch freie Plätze.«
»In Ordnung«, erklärte Calder sich widerstrebend einverstanden. »Wenn Sie das organisieren können, mache ich meine Aussage und nehme dann diese Maschine. Aber bitte lassen Sie uns schnell machen.«
99
Nordwand des Mount Everest, Nepal
Kuni drehte sich vorsichtig aufs Hinterteil und begann, die Schnallen zu lösen, mit denen ihre Lifthose an ihren Plastik-Bergsteigerstiefeln befestigt war. Das verletzte Bein aus der Ruhelage zu bringen, war das Letzte, was sie wollte, aber sie wusste, ehe sie an den Aufstieg auch nur denken konnte, musste sie sich die Wunde ansehen und die Blutung, so gut sie es vermochte, zum Stillstand bringen.
Wie schlimm war es? Sie musste es wissen.
Also lehnte sie sich mit dem Rücken an die Wand der Gletscherspalte und löste behutsam die Goretex-Gamaschen, um den blutdurchtränkten, windundurchlässigen Stoff darunter freizulegen.
Der Windschutzanzug hatte an jedem Bein einen durchgehenden Reißverschluss, und mit zitternden Fingern zog Kuni jetzt den Stoff auf.
Was sie sah, ließ sie erschrocken nach Luft schnappen: Das Bein war in einem wesentlich schlimmeren Zustand, als sie gedacht hatte – die Lawine hatte ihr einen Doppelbruch beschert: Der Oberschenkelknochen war in der Mitte völlig durchgebrochen, und das zersplitterte Ende ragte aus einem hässlich klaffenden Schlitz im blutigen Fleisch.
Es war die Art von Verletzung, die Bergsteiger am meisten fürchten; eine Verletzung, die viel zu schwer war, um sich am Hang mit einer Erste-Hilfe-Ausrüstung versorgen zu lassen, ein Schaden, der eine dringende Notoperation in einem Krankenhaus erforderlich machte. Und dann, als hätte die Wunde nur darauf gewartet, dass jemand sie in Augenschein nahm, brach jäh der Schmerz sich Bahn, während die Wirkung der natürlichen, durch die Verletzung freigesetzten schmerzstillenden Stoffe in ihrem Körper nachließ. Kuni stieß einen gequälten Schrei aus und warf mit einem Heulen den Kopf zurück.
Sie wartete ab, bis der Krampf vorüberging, dann schloss sie den Reißverschluss des Windschutzanzugs wieder über dem gebrochenen Bein. Es hatte keinen Sinn zu warten. Schon jetzt zitterte sie vor beginnender Unterkühlung. Instinktiv wusste sie, dass sie, wenn sie sich nicht augenblicklich in Bewegung setzte, vermutlich der Versuchung erliegen, sich zusammenrollen und sterben würde.
Sie packte ihren Eispickel und begann, der Wand aus purem Eis entgegenzukriechen.
100
Terminal eins, Flughafen Heathrow
Tina durchquerte das Terminal, ging an den Duty-free-Shops vorbei und strebte auf den Flugsteig zweiundvierzig zu. Die Ereignisse dieses Vormittags gingen ihr noch einmal durch den Kopf; der Unfall mit dem Hirsch ließ ihr noch immer keine Ruhe. Sie wünschte, sie hätte die Zeit gehabt, mit Martin darüber zu sprechen, als er sie vorhin angerufen hatte.
Sie erreichte den Flugsteig, begrüßte das Personal an der Abfertigung und war im Begriff, die Gangway zum Flugzeug zu betreten, als die Erinnerung sie jäh überfiel.
Martin. Der Anruf aus Malawi. Mit einem heftigen Gefühl der Schuld wurde Tina klar, dass sie vergessen hatte, worum er sie gebeten hatte.
Sie drehte sich um und ging zurück in den Wartebereich, um eine Telefonzelle zu suchen. Schnell warf sie ein paar Münzen ein, wählte die Nummer und fluchte, als von Neuem das Besetztzeichen ertönte. Während der nächsten Minuten wählte sie ununterbrochen, wobei ihr bewusst war, dass sie längst an Bord hätte sein sollen, um die Flugvorbereitung vorzunehmen. Eine der Flugbegleiterinnen kam zu ihr herüber.
»Eine Nachricht vom Kopiloten«, sagte sie zu Tina. »Wir können unsere Startzeit nicht zugeteilt bekommen, solange du nicht an Bord bist.«
»Das weiß ich.« Tina rang sich ein dünnes Lächeln ab. »Gib mir noch einen Augenblick, bist du so lieb?« Wieder drückte sie die Tasten, und mit einem erleichterten Seufzer vernahm sie aus der Leitung das Freizeichen.
Kontakt. Im letzten Augenblick.
Tina gab die Nachricht an die Vermittlung in der Klinik in Lilongwe weiter und erfuhr, dass der Flug des Roten Kreuzes noch nicht in Richtung Norden gestartet war. Nachdem sie die Dringlichkeit des Notfalls erklärt hatte, versicherte man Tina unverzüglich, dass das Blutplasma wie gewünscht in die Klinik in Chinchewe
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