Die Mafia - 100 Fragen 100 Antworten - FAQ Frequently Asked Questions MAFIA
Vergangenheit war es nicht anders. Michele Navarra, der Boss von Corleone, leitete das dortige Krankenhaus, das Ospedale dei Bianchi. Francesco Barbaccia war HNO-Arzt im Ucciardone-Gefängnis. Barbaccia stammte aus Godrano, einer kleinen Gemeinde in den Hügeln um Palermo, und wurde von Gaetano Badalamenti in die Familie von Cinisi aufgenommen. Badalamenti kam es gelegen, einen Arzt als Ehrenmann zu haben, der ihm im Gefängnis zu Diensten stand. Francesco Barbaccia wurde auch für zwei Legislaturperioden ins Parlament gewählt; er kandidierte für die Democrazia Cristiana. Berühmt wurde er wegen seines beharrlichen Schweigens: Er ergriff im Parlament kein einziges Mal das Wort, unterzeichnete nie eine Anfrage und hielt sein Leben lang nie eine öffentliche Rede.
In den letzten Jahren trat schließlich noch der letzte Stern des mafiosen Gesundheitswesens in Erscheinung: Michele Aiello, der Beschützer Bernardo Provenzanos. Er deckte ihn finanziell und verteidigte ihn gegen die Polizei.
Drei Jahre lang war er der größte Steuerzahler Palermos, aber niemand kannte ihn. Er war anonym, unsichtbar. Er begann als Bauunternehmer und gewann Ausschreibungen für die Feld- und Waldwege halb Siziliens, dann wurde er zum »König« der sizilianischen Kliniken und steinreich. Er war Besitzer der Villa Santa Teresa, einer Privatklinik in Bagheria, die als Einzige im westlichen Sizilien über ein PET-Gerät [Positronen-Emissions-Tomographie] für die Krebsfrüherkennung verfügte. Die Klinik war in der Region »akkreditiert«, noch bevor sie ihre Tore geöffnet hatte.
Wer es wissen sollte, wusste es: Eine Strahlentherapie würde nicht, wie in der Gebührentabelle vorgesehen, viertausend, sondern dreißigtausend Euro kosten. Die »Preisliste« hatte Aiello im Hinterzimmer eines Bekleidungsgeschäfts mit Totò Cuffaro ausgearbeitet, dem Regionalpräsidenten Siziliens. Jahr für Jahr entnahm Villa Teresa den Kassen der öffentlichen Gesundheitsversorgung Siziliens vierzig Millionen Euro. Nach der Verhaftung des Klinikkönigs sank die Gebühr für Untersuchungen in der Villa Teresa plötzlich um fünfundsiebzig Prozent. Die Antimafia zahlt sich schnell aus.
Michele Aiello war ein Strohmann Bernardo Provenzanos und von Leuten aus dem Staatsapparat umgeben, die ihn über Ermittlungen gegen ihn und Provenzano auf dem Laufenden hielten. Wenn die Fahnder des untergetauchten Mafiabosses sicher waren, in einem Dorf oder einem Gehöft seine Spuren gefunden zu haben, war der Unterschlupf zwar noch warm, aber Provenzano war wie vom Erdboden verschluckt. Er war stets bestens informiert. Er und der Klinikkönig hatten überall ihre Spitzel.
Einer seiner Informanten scheint Totò Cuffaro gewesen zu sein, der nach 2000 der mächtigste Politiker der Insel war […].
La Repubblica
, 23. Januar 2010
Der ehemalige Regionalratspräsident Totò Cuffaro sitzt seit dem 22. Januar 2011 im römischen Gefängnis Rebibbia eine siebenjährige Haftstrafe ab, weil er die Cosa Nostra »in schwerwiegender Weise begünstigt« hat.
II Die Geschichte der Mafia
42. Durch wen haben die Italiener die Mafia entdeckt?
Im Jahr 1876, kurz nach der Einigung Italiens, führten Leopoldo Franchetti und Sidney Sonnino eine Untersuchung zur Wirtschaft und Verwaltung in Sizilien durch. Damit rückten sie zum ersten Mal das Problem der Mafia ins Licht der Öffentlichkeit und deckten zugleich die Verbindungen dieser Organisation zur politischen Macht auf. Ihre Untersuchung wurde zum Ausgangspunkt für alle Studien des Phänomens Mafia in den nachfolgenden Jahrzehnten.
Wenn eine Angelegenheit der Eigensucht zwei der ersten Familien in einer Gemeinde trennt, so gruppieren sich nach und nach alle anderen um diese, und der Ort ist in zwei Parteien gespalten. Eine jede wendet gegen die andere alle Mittel an: Gewalttat, Zivilklage, Strafprozess, das Wahlgesetz und die Gemeindeordnung. Jeder versucht, den Prätor, den Staatsanwalt, den Unterpräfekten zu gewinnen. Wo keine Trennung, kein Streit besteht, wo die Vorherrschaft in der Gemeinde einer einzigen Person gehört, da wird deren Macht zu einer unbedingten. Sie verfügt dann nach Gefallen über die öffentliche Verwaltung und fast über Leben und Vermögen aller. Wir haben die Mafia beschrieben.
Leopoldo Franchetti und Sidney Sonnino,
Allgemeine
Zustände und Verwaltung in Sizilien
(1876; dt. 1906)
43. Stimmt es, dass die Mafia vom Faschismus besiegt wurde und sofort nach dem Sturz des Regimes wieder
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