Die Mafia - 100 Fragen 100 Antworten - FAQ Frequently Asked Questions MAFIA
der Angst«.
36. Ist der gesamte Markt von der Schutzgelderpressung betroffen?
Es gibt keinen freien Markt in Palermo. Die Cosa Nostra beherrscht das Marktgeschehen auf eine Weise, die sich ein Nichtsizilianer oder jemand, der nicht in Sizilien lebt, kaum vorstellen kann. Im Viertel Noce wollte der Inhaber eines Schuhgeschäfts vor ein paar Jahren seinen Laden vergrößern und ein zweites Schaufenster einrichten. Ein anderer Schuhhändler in der Nähe wandte sich an die Ehrenmänner, um seinen Konkurrenten an der Erweiterung zu hindern. Ein Fischhändler in der Via dell’Orsa Maggiore beklagte sich bei den Mafiosi über einen Kollegen in derselben Straße, dem man daraufhin seine Tätigkeit untersagte. Doch dann fand auch er einen Beschützer und konnte weiter Fisch verkaufen – unter einer Bedingung: Er durfte seine Waren nicht ausstellen. In Palermo wird alles kontrolliert. Ein Bankräuber übergibt einen Teil seiner Beute an die Ehrenmänner des Bezirks, in dem der Überfall stattgefunden hat.
Die Cosa Nostra steckt in einer schweren Krise, doch die Schutzgelderpressung funktioniert nach wie vor – und zwar nach denselben alten Regeln. Manche Geschäftsleute zahlen seit mehr als dreißig Jahren. Wenn im Jahr 1970 ein Mafioso von einem Geschäftsmann Schutzgeld verlangte, bittet heute der Sohn des Mafioso den Sohn des Geschäftsmanns zur Kasse.
In einer Anhörung vor dem parlamentarischen Antimafia-Ausschuss sagte Gaspare Mutolo 1993: »In Palermo zahlen die Leute ganz diszipliniert.« Er wollte damit sagen, dass auch die Opfer der Erpressung letztlich auf ihre Kosten kommen: Sie sindüberzeugt, dass die Protektion der Bosse sie weniger teuer zu stehen kommt als der Schutz durch den Staat.
Staatsanwalt Maurizio De Lucia, der achtzehn Jahre lang gegen die Schutzgelderpresser in Palermo ermittelte, kommt zu folgendem Fazit: »Für die Mafiaorganisation ist die Schutzgelderpressung vor allem ein Instrument der sozialen Kontrolle mit einem Geflecht von Abhängigkeiten, Loyalitäten und Dankbezeugungen. Auf diesem Weg erhält die Cosa Nostra Zugang zu den legalen Geschäften. Das Sicherheitspaket der Mafia AG umfasst eine Versicherung gegen Diebstahl, Überfälle und Sachbeschädigung, aber auch einen Liefervertrag, eine ganz besondere Arbeitsagentur, eine stets verfügbare Kreditlinie und einen Schalter, an dem man vorsprechen kann, um Konflikte und Wettbewerbsprobleme zu klären.«
37. Sind die »Addiopizzo«-Initiativen ein Zeichen des Wandels?
Die Geschichte von Addiopizzo (»Adieu Schutzgeld«, oder auch: »Schutzgeld nein danke«) zählt zu den merkwürdigsten im Sizilien der letzten Jahre. Eines Morgens Ende Juni 2004 waren die Häusermauern in Palermo mit Klebezetteln bepflastert, auf denen stand: »Ein Volk, das Schutzgeld zahlt, ist ein Volk ohne Würde.«
Ein paar junge Leute, die sich ein paar Monate zuvor mit dem Gedanken trugen, einen Pub zu eröffnen, fragten sich: »Und was machen wir, wenn die Schutzgeld von uns verlangen?« Aus dem Pub wurde nichts, stattdessen wandten sie sich mit diesem Aufruf an die Öffentlichkeit. Sie scharten Geschäftsleute um sich, die sich der Schutzgeldforderung widersetzten, und appellierten an die Einwohner Palermos, nicht in Geschäften zu kaufen, die den Mafiosi nahestanden oder Schutzgeld zahlten. Und sie gründeten ein Komitee. Damit begann das Abenteuer von Addiopizzo. Sie beließen es nicht bei ein paar Slogans, sondern stürzten sich in mühevolle und komplizierte Kleinarbeit. Staatsanwalt Pietro Grasso, Polizeipräfekt Giosuè Marino, PolizeipräsidentGiuseppe Caruso und der Vorsitzende des parlamentarischen Antimafia-Ausschusses Francesco Forgione stellten sich schnell auf ihre Seite. Ebenso Tano Grasso, ein ehemaliger Schuhhändler, der zwanzig Jahre zuvor zur Galionsfigur der Einwohner von Capo d’Orlando geworden war, die sich gegen die Schutzgelderpressung aufgelehnt hatten.
Addiopizzo hat bisher wenig und zugleich schon sehr viel verändert: Die Rechtsstaatlichkeit wurde gestärkt, wenn auch geringfügig, und es wurden kleine Schritte in Richtung Freiheit unternommen. Keine Revolution, aber immerhin wurde der Beweis erbracht, dass man etwas tun kann und tun muss. Bisher haben sich fast dreihundert Kaufleute und Unternehmer Addiopizzo angeschlossen und beziehen damit gegen die Schutzgelderpressung Stellung – und zwar öffentlich, was in Palermo von großer Bedeutung ist.
Im Januar 2005, wenige Monate, nachdem die Addiopizzo-Initiatoren ihre
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