Die Magierin des Windes: Roman (German Edition)
abfahrenden Schiff Beleidigungen nach, andere stimmten willkürlich irgendwelche Strophen von Trinkliedern an. Binns lachte. »Siehst du, Kin? Bloß ein reicher Lackaffe, der mehr Geld als Verstand hat. Du hast dir um nichts und wieder nichts Sorgen gemacht. Ein kleiner Na-wie-geht’s-Schuss – und schon rennt er wie ein Kleinkind davon!«
Falkin sagte nichts. Er rannte offenbar wirklich davon, aber der Bursche hatte sich keineswegs wie ein Feigling aufgeführt. Sie konnte nicht fassen, dass er Binns’ beleidigenden Schuss ohne eine Antwortsalve hingenommen hatte.
»Komm schon, Mädchen, er ist weg.« Binns stupste ihre Schulter an. »Geh unter Deck, hol dir eine Tasse Rum und wärm dir die Knochen.«
Sie wollte gerade das Fernrohr sinken lassen und auf den Vorschlag ihres Kapitäns eingehen, als das Kriegsschiff zu ihrem Entsetzen wieder aus der verregneten Dunkelheit auftauchte: ein monströser, roter Leviathan, der mit Höchstgeschwindigkeit durchs Wasser auf sie zuschoss. Mit Rammgeschwindigkeit. Das Schiff war groß genug, die Vogelfrei in zwei Teile zu zerlegen, ohne dass es auch nur unter dem Aufprall leiden würde.
Falkin sprang an die Reling und wartete nicht ab, dass Binns den Befehl gab. Sie hatten nur noch Sekunden, bevor das Kriegsschiff sie unter seinem Kiel zerquetschte. »Shadd!«, schrie sie. »Feuer die Steuerbordkanonen ab!«
Der Hüne, der mit Kopf und Schultern aus der Luke ragte, gab ihren Befehl nicht weiter. Er starrte fasziniert über das Wasser.
»Feuer!« Falkin schwang sich über die Reling und rannte zur offenen Luke. Sie packte Shadd an den Haaren, riss ihm den Kopf zurück und ließ dann los. »Wo hast du deine Augen? Wach auf, Mann!«
Shadds Kopf machte einen Ruck nach vorn, und nun schien er sich zum ersten Mal auf sie zu konzentrieren. »Was sollte das jetzt?«
»Wir werden sterben!«
»Nein, das werden wir nicht. Da ist nichts – da draußen.« Er deutete hin, sie drehte sich um und sah in die Richtung, in die seine zitternde Hand wies.
Falkin riss die Augen auf. Sie suchte den Horizont ab, blickte erst nach links und dann nach rechts. Das große Schiff war fort, in der stürmischen Nacht verschwunden, als sei es nie da gewesen.
Kapitel 2
Gebrochen war der Zauber nun, Ich sah den grünen Ozean, Weit drüber hin, und sah doch nicht Wie ich es einst getan.
Samuel Taylor Coleridge
»WAS HAB ICH dir gesagt? Hab ich nicht gesagt, dass das Schiff etwas Seltsames an sich hatte?« Falkins regennasse Zöpfe schwangen hin und her, während sie in der Kajüte hin und her lief, und versprühten jedes Mal, wenn sie die Richtung änderte, winzige Tropfen. Langes Haar bedeutete an Bord eines Schiffes eine Bürde. Statt es abzuschneiden drehte sie es sich zu Dutzenden kleiner Zöpfe und band sie alle zu einem Pferdeschwanz zurück, wenn sie damit fertig war. Zu jeder anderen Zeit hätte sie ihr Haar gelöst, um es richtig trocknen zu lassen, aber in ihrer jetzigen Stimmung hätte sie sich dabei wohl die Hälfte ihrer Zöpfe ganz vom Kopf gerissen. »Lass das Schiff in Ruhe – das habe ich dir gesagt, aber, o nein, du musstest ja hingehen und seine Aufmerksamkeit auf dich ziehen.«
Binns bot ihr einen beinahe randvollen Becher mit schwarzem Rum an. »Trink was, sei ein gutes Mädchen. Trink aus und wir werden darüber nachdenken.«
»Oh, jetzt werden wir nachdenken? Du hast gerade auf irgendeinen Magus geschossen! Er hätte dich in eine Schildkröte verwandeln können.«
Binns griff sich mit der freien Hand über die Schulter und klopfte sich auf den Rücken. »Nein, kein Panzer da.«
»Artemus! Wir reden doch hier nicht nur von deinem Leben!«
Wieder hielt er ihr den Becher hin. »Trink, Kin. Es ist doch nichts passiert – und wenn du solche Angst hast, wirst du nur die anderen verstören.«
Der Dreimaster war nicht gesunken; dann hätten sie Wrackteile oder im Wasser verstreute Überlebende sehen müssen. Er hatte sie auch nicht verfehlt und war davongesegelt. Das hätten sie gesehen und hätten auch den Sog der aufgewühlten See beim Vorübergleiten des Schiffes gespürt. Eben war es noch da gewesen, im nächsten Augenblick dann verschwunden.
Sobald die Mannschaftsmitglieder den ersten Schrecken überwunden und die Gewalt über ihre Zunge zurückgewonnen hatten, hatten sie sich bekreuzigt und Schutzformeln gegen Geister, Dämonen und jegliches andere übernatürliche Wesen, das ihnen eingefallen war, gemurmelt. Zum ersten Mal war Falkin dankbar für
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