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Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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verbrennen. Sie legte den Kopf auf ihre Arme, um die Dünste nicht einatmen zu müssen. Deshalb bemerkte sie zunächst nicht, daß die Stimmen schließlich verhallten und Gabriel sich vorsichtig durch die Spalte in den Chorraum zwängte.
    »Paßt auf Eure Knie auf«, warnte er Philippa, als sie sich anschickte, ihr Versteck ebenfalls zu verlassen. Sie begaben sich in den Chorraum zurück, wo Golfrieds Leichnam in unveränderter Pose auf dem Sockel lag. Vor dem Holzkreuz stand eine Schale mit Räucherwerk auf der Erde, von der feiner Rauch aufstieg.
    »Ich kann kaum glauben, daß die Männer meine Sackpfeife übersehen haben«, sagte Gabriel Prinz erleichtert. Er bückte sich und untersuchte sein Instrument mit prüfenden Blicken. »Mein Glück, daß der Pfarrer ebenso schlecht sieht, wie er singt!«
    »Er hat etwas auf Golfrieds Leib gelegt. Sieht aus wie eine Kugel aus Wolle.« Ohne zu überlegen, streckte Philippa ihre Hand nach dem sonderbaren Gegenstand aus, als Gabriel entsetzt aufschrie: »Nicht anfassen, Jungfer!«
    Philippa schrak zurück. »Ich wollte nur …«
    »Das ist ein Bezoar, ein Magenstein aus Haaren und Pflanzenresten, den man zwischen den Innereien einer Ziege findet. Ich habe ähnliche Exemplare gesehen, als ich vor einigen Jahren mit einer Gruppe von Schaustellern durch Persien gereist bin. Dort schwört man darauf als wirksames Mittel gegen alle Arten von dämonischem Zauber.«
    Philippa erbleichte. Mit fahrigen Bewegungen strich sie sich den Staub aus den Haaren und setzte ihre Haube wieder auf. »Laßt mich raten: Die Kugel ist vergiftet!«
    Gabriel Prinz zuckte mit den Schultern. »Wir finden es am besten niemals heraus!«
    Schweigend verließen sie die Abtei. Erst an der Biegung, die zum Gottesacker führte, räusperte sich Philippa und fragte: »Wo habt Ihr gelernt, die Gedanken fremder Menschen zu kontrollieren? In Persien?«
    »Man schnappt so einiges auf«, antwortete der Musikant wortkarg. Noch immer hielt er seine Sackpfeife umklammert, als wäre sie ein wiedergefundenes Kind. »Vermutlich fragt Ihr Euch nun, warum ich mich vor Leuthold und seinen Männern verkrochen habe, anstatt, wie Ihr Euch ausdrückt, ihre Gedanken zu kontrollieren?«
    Philippa empfand Erleichterung, daß Gabriels Blicke starr auf den Pfad und nicht auf sie gerichtet waren, denn sie fühlte, wie ihr vor Verlegenheit die Röte ins Gesicht stieg. »Nun ja, so direkt gefragt …«
    »Ihr könnt erst in einem Buch lesen, sobald seine Seiten beschrieben sind, Jungfer«, sagte er mit einer Stimme, als wäre er tief in Gedanken versunken. »Eure Augen spiegeln wider, was Ihr fühlt, was Ihr denkt. Die Freude, die Euer Herz zum Rasen bringt, das Leid, das Euch begleitet, wo auch immer Ihr seid. Versteht Ihr? Solcher Art sind die Seiten Eures Lebensbuches. Ich kann sie aufschlagen, und das verwirrt Euch. Bei Leuthold ist das etwas völlig anderes. Ich möchte nicht sagen, daß ihm Gefühle fremd sind, aber sie werden bei ihm von einem stumpfen Zwang gelenkt. Diesen Zwang hält er für Glauben. In Wahrheit klammert er sich an einen Notnagel und folgt, statt sich mit den Veränderungen unserer Zeit auseinanderzusetzen, der einfachsten Lösung, die sein erstarrter Geist begreift.«
    »Und wie sieht diese Lösung aus?«
    »Er ist der Ansicht, daß der Antichrist bereits erschienen ist und überall lauert, uns zu verschlingen. Das Tier der Apokalypse wird in Kürze gebunden sein, und da es weiß, daß seine Zeit gekommen ist, sendet es seine Kreaturen aus, um die Rechtgläubigen in die Irre zu führen. Die Leute von Rauhfeld sind empfänglich für solche Visionen, die das Ende der Welt verkünden. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht wenigstens einer in den Lüften Psalmengesänge, Waffengeklirr oder eine unsichtbare Trompete vernommen haben will. Was habt Ihr, Jungfer? Ihr zittert plötzlich am ganzen Leib.« Unvermittelt nahm er sie in die Arme, bis das verräterische Beben in ihrer Brust langsam schwächer wurde.
    »Es ist nichts«, wiegelte Philippa leise ab. »Nur ein wenig Kopfschmerzen. Ich sollte bei der Pumpe haltmachen und meine Kleider in Ordnung bringen.«
    Es war eine Ausrede, um ihn loszuwerden. Und Philippa spürte, daß er es wußte, ohne ihre Augen befragt zu haben. Schuldbewußt senkte sie den Blick und löste sich aus seiner Umarmung.
    »Ich verstehe«, sagte Gabriel. »Ihr müßt nach Wittenberg zurück, weil dort jemand auf Euch wartet! Solltet Ihr dennoch jemals die Hilfe eines Gauklers brauchen, so fragt

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