Die Magistra
nächsten Moment hörte Philippa ganz deutlich Pferdehufe auf dem verschlungenen Pfad, der zur Ruine hinaufführte.
»Das habe ich befürchtet«, preßte Gabriel zwischen den Zähnen hindurch. »Pfarrer Leuthold kommt zurück. Mit ihm reiten zwei … nein, drei Männer. Na fabelhaft! Sie reiten direkt auf die Abtei zu.«
»Gibt es denn keine Möglichkeit, hier herauszukommen?« flüsterte Philippa. Sie blickte sich in dem kahlen Raum mit seinen Kreuzbögen und Säulen um, ohne jedoch nur das kleinste Schlupfloch zu entdecken.
»Die Kleiderkammer«, gab der Musikant zurück. »Hinter der letzten Säule ist der Zugang zu einem fensterlosen Raum. Die Mönche bewahrten dort ihre liturgischen Geräte und die Meßgewänder auf. Ihr müßt ein paar Steine aus dem Weg räumen, dann könnt ihr über das Geröll hinüberklettern!«
»Und Ihr?« entgegnete Philippa angsterfüllt.
»Ich werde versuchen, unseren Freund wieder so herzurichten, wie wir ihn vorgefunden haben. Danach folge ich Euch. Beeilt Euch! Sie werden gleich hier sein!«
Philippa hastete zur Rückwand des Chores. Wie Gabriel gesagt hatte, wurde der Zugang zu der kleinen Apsis von riesigen Steinquadern, Holzbalken und reichlich Geröll versperrt. Philippa war ratlos. Es war unmöglich, in die Kleiderkammer zu gelangen, ohne über diesen Berg aus Steinen und Scherben zu steigen, doch der Lärm, den sie bei einem Versuch auslöste, würde sie unweigerlich verraten.
Hallende Geräusche sagten ihr, daß Gabriel den Chorraum entlangeilte. Der Gaukler hatte die Situation auf der Stelle erfaßt. »Uns bleibt wenig Zeit, die Männer sind bereits an der Biegung. Kommt, steigt hinauf, ich stütze Euch!«
»Aber die Quader«, hielt Philippa ihm verzweifelt entgegen. »Wenn sie zu Boden fallen, wird es einen Schlag geben, als stürzten die Mauern von Jericho zusammen!«
»Nicht, wenn Ihr sie nach vorne schiebt und sie in die Kleiderkammer fallen. Die Mauer wird das Geräusch dämpfen!«
Ohne weiteren Widerspruch kletterte Philippa über Schutt und Geröll. Die angesengten Balken knirschten bedrohlich unter ihren Füßen, Sand und Staub reizten ihre Kehle. Doch zuletzt gelang es ihr, den Spalt vor der Apsis zu vergrößern. Als die größten Steinbrocken nach innen fielen, hielt sie, in Erwartung eines dumpfen Lautes, den Atem an. Doch der vermeintliche Lärm blieb aus. Die Steine waren auf weichen Grund geschlagen. So schnell sie konnte, schlüpfte Philippa durch den Spalt. Gabriel Prinz folgte ihr kopfüber.
Im nächsten Augenblick betraten drei Gestalten, angeführt von einem kräftigen Mann in der Soutane eines Priesters, den Chorraum. Mißtrauisch blickten sie sich um, ehe sie an die Bahre mit dem Toten traten.
Philippa und Gabriel wagten nicht, sich zu rühren. Mit klopfendem Herzen starrte Philippa in die Finsternis. Die Kammer war winzig, die Luft unangenehm trocken. Sie konnte nur beten, daß die Männer im Chorraum verschwanden, ehe ihnen in dieser Gruft buchstäblich die Luft ausging. Plötzlich bemerkte sie, wie Gabriel vor Schreck die Augen aufriß. Fragend stieß sie ihn an.
»Meine Sackpfeife«, flüsterte er, ohne die Lippen zu bewegen. »Ich habe sie hinter der Bahre liegen lassen!« Vorsichtig erhob er sich und spähte durch die Ritzen der Steinbrocken nach draußen. Alles, was er im Zwielicht erkennen konnte, war die der Kleiderkammer gegenüberliegende Mauer, doch wenigstens waren die Stimmen der Männer deutlicher zu verstehen.
»Was sagen sie?« zischte Philippa. »Haben sie Verdacht geschöpft?«
Gabriel winkte ab.
Einer der Ankömmlinge, vermutlich der Priester, begann, mit hoher Stimme zu singen. Lateinische Klänge hallten durch den Chor und verbanden sich mit dem Rauschen der Bäume, deren Äste durch die hohlen Fensteröffnungen ins Innere ragten. Philippa überlegte, wann sie zum letzten Mal klösterliche Gesänge gehört hatte. Es mußte viele Jahre her sein. Sie war noch ein Kind gewesen, und ihre Mutter hatte sie an der Hand gehalten, während der Priester vom Hochaltar an das Tabernakel getreten war. Doch diese Zeremonie war keine Messe. Die Abtei war zerstört, der alte Glaube mit Feuer und Schwert aus ihren Mauern getrieben. Zurück blieb das Gefühl von Enge, Kälte und Angst. Plötzlich waberte ein sonderbarer Geruch durch die Kapelle. Philippa erinnerte sich an den Duft von Weihrauch, spürte jedoch instinktiv, daß dieser Geruch von etwas anderem herrührte. Die Männer mußten irgendwelche stark riechenden Kräuter
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