Die Magistra
gewachsen.«
Die Kinder steckten die Köpfe zusammen und kicherten. Barbara errötete. Als sie sich jedoch umwandte, verebbte das Gelächter schlagartig. Mit grimmiger Miene sagte das Mädchen: »Ich verstehe trotzdem nicht, wie mir Euer Latein durchs Leben helfen soll. Nach Misericordia Domini werde ich vierzehn Jahre alt. Mein Vater hat bereits angedeutet, daß es sein Wunsch ist, mich mit dem Sohn eines befreundeten Kürschners aus Meißen zu verloben. Dabei kenne ich den Mann nicht einmal. Meine Brüder ziehen mich schon heute damit auf. Sie behaupten, er sei fett und humpele. Als Kürschnersfrau werde ich gewiß nicht die Freiheit haben, Bücher zu lesen oder mich mit diesen alten Griechen zu beschäftigen!«
Philippa ließ sich auf ihren Stuhl zurücksinken. Das Mädchen hat vielleicht nicht unrecht, mußte sie sich eingestehen. Sie war Schulmeisterin und kannte nicht einmal die dringlichsten Nöte der ihr anvertrauten Seelen. Machte sie sich und ihren Schülerinnen nicht etwas vor, indem sie glaubte, die Welt mit einer Schreibfeder und der Kenntnis der Reden Ciceros verändern zu können? Zähmte man ein Rudel Wölfe mit einem Tintenfaß? Maria Lepper hatten weder Fleiß noch Wissensdurst retten können. Sie war tot und begraben, Magister Bernardi befand sich auf der Flucht, und die aufgeweckte Barbara würde nach Misericordia Domini in der Werkstatt eines fetten, humpelnden Kürschners Pelze bürsten und Häute fetten. Was also, wenn der Weg, den sie sich erträumte, nur zu weiterem, mannigfaltigerem Elend führte? War es dann nicht besser, die Bücher zu schließen und sich in sein Schicksal zu fügen? Ihr Blick fiel auf eine kleine Druckschrift, die Hans Lufft vor wenigen Wochen eigens für den Unterricht der Wittenberger Mädchen aufgelegt hatte.
»Du möchtest wissen, warum die Gelehrten, die sich Humanisten nennen, das Altertum mitsamt seinen Sprachen verehren?« fragte Philippa schließlich an Barbara gewandt. »Warum es nicht umsonst ist, sich mit den Wissenschaften zu befassen, auch wenn der eigene Lebensweg anders verlaufen mag, als wir ihn uns vorstellen?« Sie öffnete ihre Schreibmappe mit den unvollendeten Übersetzungen von Sallusts Verschwörung des Catilina. Das Papier wellte sich bereits unter ihren Fingerspitzen. Vermutlich hatte sie es zu lange in seinem feuchten Kasten liegenlassen. »Die Humanisten verdanken dem Römer Cicero ihre Erkenntnis, daß es sowohl äußere als auch innere Freiheiten gibt. Mein Onkel, Doktor Luther, hat diese Lehre aufgegriffen, indem er von zwei Reichen predigt. Das eine ist ein Reich der Gnade, in dem kein anderes Gesetz wirkt, als Gottes Barmherzigkeit, während im anderen Reich die weltliche Obrigkeit über uns regiert.«
»Aber müssen wir nicht in beiden Reichen gehorsam sein?« meldete sich eine Schülerin, die neben Barbara saß, zu Wort.
»Geistige Freiheit ist keine Frage von Gehorsam, verstehst du? Gehorsam ist lediglich der Unterbau einer jeden äußeren Ordnung, der man sich als treuer Untertan zu fügen hat. Nur versteht der Humanismus diese Ordnung nicht als Zwang oder Nötigung, sondern als eine Möglichkeit für jeden Menschen, seine Persönlichkeit harmonisch zu entwickeln. Allein diese Entwicklung verhilft dem Menschen, sich geistig zu öffnen, dort Schönheit zu entdecken, wo sie schon beinahe abhanden gekommen ist.«
»Wollt Ihr damit sagen, wenn ich diesen Humanisten und ihren Ideen folge und Latein lerne, kann ich selbst an einem schielenden Kürschner Schönheit entdecken?« fragte Barbara mit skeptischer Miene.
Philippa lächelte. Die Schulstunde begann ihr Spaß zu machen. Zum ersten Mal seit Stunden schien der Alpdruck, der sie seit Rauhfeld begleitet hatte, zu weichen. »Zumindest verschaffst du dir Möglichkeiten«, erklärte sie aufgeräumt, »welche Mädchen und Jungen wie du in früheren Zeiten nicht hatten. Und diese Möglichkeiten werden zum Gradmesser deiner Entwicklung. Was dein Verstand aufnimmt, verformt nicht den Schädel. Es wird dir vielmehr zeigen, innerlich unabhängig zu sein, durch Geist und Witz zu überzeugen. Wenn auch womöglich nur dich selbst!«
»Verstanden denn die Heiden im Altertum nach diesen Grundsätzen zu leben? Ihre Reiche sind doch letztendlich zerfallen!«
»Nicht alle«, gab Philippa zu. »Der Weg der Wissenschaften war dem einfachen Bürger selten zugänglich. Doch immerhin hatte er einen Vorteil, den Angehörige späterer Generationen bis heute verloren haben: Die Welt der alten Griechen
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