Die Magistra
demütig die Hände und ließ sie schließlich wie eine Nonne unter einer Falte ihres Samtkleides verschwinden. Einen Herzschlag lang sprach niemand ein Wort. Philippa fühlte sich zusehends unwohler. Sie überlegte, wie sie auf taktvolle Weise das Schweigen brechen konnte, als die Frau sie auch schon leicht an der Schulter berührte.
»Dann bist du wohl meine Nichte, nicht wahr? Verzeih, daß ich dich nicht sofort erkannte, immerhin siehst du meinem armen Bruder Nikolaus sehr ähnlich. Nur das hübsche, dichte Haar hast du von deiner Mutter. Das Haar und die dunklen Augen.«
Katharina von Bora breitete ihre Arme aus und zog Philippa an sich. Die Geste drückte wenig Zärtlichkeit aus, vielmehr schien die Lutherin ihren unerwarteten Gast auf Herz und Nieren prüfen zu wollen. Doch Philippa ließ sich die Umarmung gerne gefallen. Seit dem Tod ihres Vaters hatte sie, abgesehen von Roswithas grober Herzlichkeit, das Gefühl menschlicher Nähe nicht mehr erfahren.
***
Nie zuvor waren Philippa in einem einzigen Gebäude so viele Menschen über den Weg gelaufen wie im Haus ihrer Wittenberger Verwandten. Männer, Frauen, ja selbst Kinder hetzten durch die kärglichen Gänge und schleppten Truhen, Vorhangstoffe, mit bunten Wappen bestickte Kissen und Schemel in verschiedene Stuben oder kehrten altes Stroh aus den dunklen Winkeln, daß es nur so staubte.
In der Küche waren zahlreiche Mägde an einem gewaltigen Eichentisch damit beschäftigt, Berge von Grünzeug zu putzen. Am Herd stand eine Köchin und rührte mit einem Löffel in einer glänzenden Kupferschüssel, aus welcher der Geruch von gehackten Zwiebeln, Rosmarin und in Schmalz gewendetem Lammfleisch aufstieg.
Katharina Luther gab selbst im Gehen ihre Anweisungen. Das Gemüse sollte in Wasser gesotten und danach kurz gebraten werden, jedoch mit wenig Öl. Wo waren die Mädchen geblieben, welche die Gästekammern fegen sollten? Nun hatte sich die Lepper doch noch aus dem Staub gemacht. Zweifellos war sie zum Freihof gelaufen. Mädchen wie diese Maria fanden immer ein Schlupfloch durch die Mauer oder einen Stadtwächter, der für ein Lächeln hundert Ausnahmen machte. Und wer holte nun die bestellten Hasenkeulen aus dem Räucherhaus des Schlachters? Der gute Mann würde sich bedanken, wenn man ihn zu dieser Stunde noch behelligte.
»Die junge Magd eben machte einen recht verstörten Eindruck«, sagte Philippa, während sie sich bemühte, mit ihrer Tante Schritt zu halten. »Außerdem schien sie sich vor irgend etwas zu Tode zu fürchten. Habt Ihr nicht bemerkt, wie ängstlich sie zu den Fenstern im oberen Geschoß des Uhrenturms starrte, Tante?«
Katharina Luther zuckte verständnislos die Achseln. »Hier gibt es nichts, wovor es einer Magd grausen könnte. Wenn jemandem langsam mulmig wird, dann mir, an der die ganze Arbeit hängenbleibt. Dies ist gewiß nicht das erste Mal, daß Dein Onkel sich Gäste ins Haus lädt, und es wird auch nicht das letzte Mal sein. Aber so viele Leute mußten nie zuvor in diesen Mauern verköstigt werden.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Ich finde, ich sollte gleich morgen früh im Vorhof Stockfische aufziehen. Dann bekommt wenigstens das Gesinde der hohen Herren eine halbwegs anständige Mahlzeit.«
Katharina Luther führte Philippa und Roswitha in einen Nebenraum der Küche, der mit seinen vollgestopften Regalen und einer Falltür im Boden wie eine Speisekammer aussah, und bedeutete ihnen, sich niederzulassen. Sie eilte in die Küche. Wenig später kehrte sie zurück, ein Tablett mit zwei dampfenden Holzschalen in den Händen balancierend. Vorsichtig stellte sie es auf einen kleinen, wackeligen Tisch, dessen Platte deutliche Spuren von eingetrocknetem Blut aufwies.
»Die heiße Suppe wird euch guttun. Anna hat zwei Eier und reichlich getrockneten Salbei hineingegeben, damit ihr wieder zu Kräften kommt. Es tut mir nur leid, daß euer Begleiter sich so rasch empfohlen hat. Ein Teller Gerstenbrühe und ein Stück Hammelbraten vom Drehspieß sind beileibe keine angemessene Vergütung für seine Hilfsbereitschaft. Nicht einmal das Badehaus wollte er aufsuchen, dabei hocken die Boten des Grafen von Hoechterstedt, der morgen erwartet wird, seit Stunden im Bottich und würfeln. Aber so war Bernardi schon immer. Sein einziges Ziel in dieser Welt scheint es zu sein, in keines anderen Menschen Schuld zu stehen.« Katharina Luther verzichtete darauf, sich zu ihrer Nichte an den Tisch zu setzen. Sie blieb unter dem Türbalken stehen
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