Die Magistra
haben, stellte Philippa fest. Zumindest wiesen einige abblätternde rote Splitter darauf hin. Doch vermutlich erinnerten sich nicht einmal mehr die Älteren daran, welche es genau gewesen war. Das Wappen der Askanier, das Philippa im Rundbogen des Schloßtores sogleich ins Auge gestochen hatte, war jedenfalls nirgendwo auszumachen.
Ein gelangweilter Wächter winkte den fremden Wagen mit seiner stumpfen Hellebarde unter dem schmalen Torbogen hindurch. Daß bei ihnen wenig zu holen war, schien offensichtlich, dennoch zog es Philippa vor, ihren Schleier ein Stück tiefer zu ziehen. Das grobe Gesicht des Stadtwächters war aufgeschwemmt, und seine Augen blinzelten glasig in das Licht der Laterne, die ein etwa zehnjähriger humpelnder Knabe, dem Aussehen nach sein Sohn, gerade an einer Haltestange befestigte. Zu seinen Füßen lag eine Branntweinflasche, aus der die letzten Tropfen in den Lehmboden rannen.
»Welch ein Glück, daß wir bei Euch noch Einlaß finden!« rief Bernardi dem Torwächter zu, während er sich abmühte, seinen Wagen um eine Jauchegrube zu lenken. »Werdet Ihr nicht bald abgelöst, Ihr wirkt nicht gerade wohlauf?«
Philippa hielt angewidert den Atem an. Die kümmerlichen, mit Stroh gedeckten Lehmkaten und Bretterbuden, aus denen derbe Flüche und Geschrei auf die Gasse drangen, paßten zwar zu dem verlausten Kerl am Tor, Vertrauen flößten sie indessen nicht gerade ein. Fürwahr, sie hatte sich die Stadt ihres Onkels Martinus Luther anders vorgestellt.
»Wie soll ein armer Torwächter mit fünf kreischenden Bälgern am Hals denn auch bei Kräften bleiben, Herr«, antwortete der Mann und stützte sich auf seine Hellebarde. »Schaut Euch um: alles Gesindel im Elbviertel. Beutelschneider und Schinder, die sich morgens zum Markt- oder Kirchplatz schleppen oder vor St. Marien um ein Almosen betteln. Dabei steht in Doktor Luthers Kirche der Gemeine Kasten, aus dem das Bettelpack großzügig unterstützt wird. Abends kriechen sie dann in ihre Rattenlöcher am Tor zurück, wo wir uns mit ihnen herumplagen müssen. Das Tor hat bis zur neunten Stunde offen zu stehen, so will's der Brauch.« Der Wächter redete sich zusehends in Rage. »Wenn es nach mir ginge …«
»Wir müssen weiter«, unterbrach ihn Bernardi unbeeindruckt. Er ließ den Torwächter stehen und zwängte den Wagen unter einem zweiten Bogen hindurch auf die Marktstraße. Ein schriller Schrei in ihrem Rücken überzeugte Philippa, daß der Torwächter seinen hinkenden Sohn als Opfer seines Unmuts entdeckt hatte.
Kaum daß der Wagen den Kirchplatz erreicht hatte, veränderte sich auch die Umgebung. Das Pflaster der Straße wurde besser. Hier und da erhoben sich hohe Sandsteinhäuser mit kleinen Türmen oder Stufengiebeln sowie herrschaftliche Höfe mit Zisternen und Pferdeställen.
»Ein widerlicher Kerl, dieser Torwächter«, beschwerte sich Roswitha und warf einen Blick über die Schulter. »Zweifellos versäuft er seinen Lohn in der Schenke, und weder seine Frau noch seine fünf Kinder sehen auch nur einen roten Heller!«
»Wir haben Glück gehabt, daß er uns anstandslos passieren ließ, ohne nach meiner Geldkatze zu schielen, gute Frau«, erwiderte Bernardi. »Die Neuordnung der Kirche hat leider nicht an den Lebensbedingungen der einfachen Menschen gerüttelt. Volle Bürgerrechte genießen nur diejenigen, die feste Steinhäuser besitzen. Die Büdner, die in den rohrgedeckten Hütten in den Flußvierteln hausen, stehen schon jetzt mit einem Bein auf der Gasse. Seht Ihr die Gerüste vor den Patrizierhäusern? Und die Baugrube gleich neben der großen Winde?«
Philippa reckte verblüfft den Hals. Sie hatte nicht geahnt, daß Wittenberg eine einzige Baustelle war. Neben der Baugrube, in die zahlreiche Leitern hinabführten, schoben einige Knechte einen Wagen mit Holzbrettern, dessen Räder sich im Schlamm festgefahren hatten. Ein unförmiger Mann mit langen grauen Haaren, offenbar ihr Meister, schwenkte eine bronzene Laterne und trieb sie grob zur Eile an.
»Das Baufieber nahm seinen Anfang, kurz nachdem der Kurfürst beschloß, die Universität zu privilegieren. Den hohen Herren konnte natürlich niemand zumuten, in Hütten mit Strohdächern zu wohnen. Deshalb sollen sowohl die Holzhäuser am alten Markt als auch die Budenreihe der Krämergilde westlich der Stadtkirche durch steinerne Bauten ersetzt werden. Die ehemaligen Bewohner können natürlich nicht für die Kosten aufkommen. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als in die
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