Die Maori-Prinzessin
Worten auf Lucie ein.
Eva und Adrian verstanden kein Wort; Lucie übersetzte für sie. »Das Dorf gibt es nicht mehr. Ahuri hat das Land an Pakeha verkauft, die dort oben alles dem Erdboden gleichgemacht und eine Farm errichtet haben. Einige unserer Leute sind nach Whangara gegangen. Unter der Führung von Hehu. Er lebt also!«, stieß sie heiser hervor. »Und sie hat mich Prinzessin Ahorangi genannt.« Lucies Augen wurden feucht vor Rührung.
»Dann frag sie doch, wie weit es nach Whangara ist«, schlug Eva vor.
Lucie wandte sich wieder der alten Maori zu, die nun ehrfürchtig begann, das Leinen von Lucies Kostüm zu befühlen, und fragte sie nach dem Weg.
»Dreizehn Meilen gen Norden«, übersetzte Lucie, bevor sie sich wortreich von der alten Maori verabschiedete.
Wieder herrschte eine gespenstische Stille, während sie die Küstenstraße entlangfuhren. Erst als sie die ersten Häuser von Whangara, die malerisch am Strand von Waihau lagen, erblickten, fand Lucie ihre Sprache wieder. »Er lebt, Hehu lebt, aber wird er sich auch freuen, mich wiederzusehen?«
»Natürlich!«, versuchte Eva, die aufgeregte Lucie zu beruhigen.
Plötzlich rief Lucie: »Halt! Halt!« und deutete auf ein Versammlungshaus, das besonders schöne Schnitzereien besaß. »Lasst uns erst einmal zu den Ahnen gehen, bevor wir uns auf die Suche nach Hehu machen«, fügte sie hinzu.
Eva und Adrian waren damit einverstanden, wie sie auf dieser Reise allem zustimmen würden, was Lucie wünschte. Es war ihre Reise!
Nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen hatten, betraten sie leise das Versammlungshaus. Aber es war nicht leer, wie sie vermutet hatten. Im Gegenteil, eine Gruppe von Maori hockte am Boden um einen alten Mann herum, der zu beten schien.
Eva und Adrian wagten nicht zu atmen, weil sie die Andacht nicht stören wollten, doch dann wandte sich der alte Mann, der mit dem Rücken zu ihnen saß, um, als hätte er gespürt, dass Fremde gekommen waren.
»Ahorangi?«, entfuhr es dem alten Mann ungläubig. Daraufhin drehte sich einer nach dem anderen zu ihnen um. Ein Raunen ging durch die Gruppe der Betenden.
»Ahorangi«, flüsterten die Älteren von ihnen, während die Jungen und die Kinder sie nur intensiv musterten.
Lucie ging wie in Trance auf Hehu zu. Über zwanzig Jahre hatten sie einander nicht mehr gesehen. Aus dem stillen Maori war ein würdevoller Anführer geworden, den seine Leute verehrten. Hehu erhob sich geschmeidig wie ein junger Mann und umarmte Lucie.
»Verzeih mir«, flüsterte sie.
»Ich habe dir nichts zu verzeihen«, entgegnete er.
Die Alten unter den anwesenden Maori standen nun ebenfalls auf und näherten sich Lucie.
»Kia ora, Prinzessin Ahorangi«, riefen sie im Chor.
Eva zupfte Adrian am Ärmel. Sie hatte das Gefühl zu stören. Leise traten die beiden Pakeha den Rückzug an. Draußen vor der Tür küssten sie sich lange und leidenschaftlich.
Erst als Stimmen erklangen, stoben sie auseinander.
»Das ist das Kind, das ich damals nicht mehr wiedersehen sollte«, sagte Lucie und deutete auf Adrian. Hehu begrüßte erst Eva freundlich, dann ihn.
Adrian sah verstohlen auf die Uhr. Wenn sie es noch vor Anbruch der Dunkelheit nach Napier schaffen wollten, sollten sie bald aufbrechen. Doch als er Lucies entrückten Blick wahrnahm, ahnte er, dass es anders kommen sollte.
»Wir müssten fahren, Großmutter«, mahnte er.
»Seid nicht böse, Kinder«, murmelte Lucie, während sie wie gebannt auf das Meer blickte. »Ich bleibe hier. Bei Hehu und den Menschen, für die ich Prinzessin Ahorangi bin. Und als Ahorangi möchte ich einst hier begraben werden.«
Eva kamen die Tränen. »Aber das ist noch lange nicht so weit! Wir werden dich besuchen, sooft wir können.«
»Ich bitte darum!« Lucie drehte sich zu ihnen um. Ein Sonnenstrahl brach sich in ihrem grauen Haar, und es sah aus, als trüge sie eine Krone.
Sie sieht wie eine echte Prinzessin aus, durchfuhr es Eva gerührt.
»Sie sieht aus wie eine richtige Prinzessin«, flüsterte ihr Adrian in derselben Sekunde ins Ohr.
»Prinzessin Ahorangi«, gab Eva zurück und schmiegte sich ganz eng an ihren Mann.
Wie von Ferne hörte sie die Stimme der Maoriprinzessin sagen: »Habe ich dir nicht gesagt, dass es dich nicht zufällig an dieses Ende der Welt verschlagen hat, meine Kleine?«
Eva nickte, während sie den Blick über das grünblaue Meer schweifen ließ und sich vorstellte, wie sie all das später einmal ihren Kindern erzählen würde.
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