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Die Mars-Chroniken

Die Mars-Chroniken

Titel: Die Mars-Chroniken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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sauberen Marsdorfes hinüber, die wie liebevoll geschnitzte Schachfiguren im Nachmittag standen. Er sah die Felsen und die Lücke, die Spenders Brust freigab.
    Parkhill preschte mit wütendem Gebrüll weiter vor.
    »Nein, Parkhill«, murmelte der Kapitän. »Ich kann es nicht zulassen, daß Sie es tun. Auch die anderen nicht. Nein, keiner von euch. Nur ich.« Er legte das Gewehr an und zielte.
    Werde ich mich sauber fühlen hinterher? dachte er. Ist es recht, daß ausgerechnet ich es tue? Ja. Ich weiß, was ich tue und aus welchem Grund, und es ist richtig, weil ich mich für die richtige Person halte, dies zu tun. Ich hoffe und bete, daß ich damit leben kann.
    Er nickte Spender zu. »Los!« forderte er mit lautem Flüstern, das niemand hörte. »Ich gebe dir noch dreißig Sekunden. Dreißig Sekunden!«
    Die Uhr tickte an seinem Arm. Der Kapitän sah ihr beim Ticken zu. Die Männer rannten. Spender rührte sich nicht. Die Uhr tickte sehr lange; sie tickte in das Ohr des Kapitäns. »Los, Spender, verschwinden Sie!«
    Die dreißig Sekunden waren vorbei.
    Er legte das Gewehr an und zielte; er atmete tief ein. »Spender«, sagte er laut beim Ausatmen.
    Und drückte den Abzug.
    Es geschah nichts weiter, als daß im Sonnenlicht eine schwache Wolke pulverisierten Felsgesteins aufstieg. Die Echos des Schusses verhallten.
    Der Kapitän stand auf und rief seinen Männern zu: »Er ist tot!« Die anderen glaubten ihm nicht. Von ihren Stellungen aus hatten sie die Lücke zwischen den Felsen nicht sehen können. Sie sahen ihren Kapitän den Hang hinaufrennen und hielten ihn entweder für sehr mutig oder für wahnsinnig.
    Wenige Minuten später folgten sie ihm.
    Sie versammelten sich um den Toten, und jemand sagte: »In die Brust?«
    Der Kapitän schaute hinab. »In die Brust«, sagte er. Er sah, daß sich die Felsen unter Spender verfärbt hatten. »Ich möchte nur wissen, warum er gewartet hat. Ich möchte wissen, warum er nicht geflohen ist, wie er es wollte. Warum er geblieben ist und sich hat umbringen lassen«, fragte er leise.
    Im Tode noch hielt Spender eine Hand um das Gewehr geklammert und die andere um das silberne Buch, das in der Sonne glitzerte.
    Hat er es vielleicht meinetwegen getan? fragte sich der Kapitän. Weil ich meinerseits nicht nachgeben wollte? War Spender der Gedanke zuwider, mich umzubringen? Unterscheide ich mich überhaupt von den anderen hier? Liegt es daran? Hatte er das Gefühl, mir trauen zu können? Welche andere Antwort gäbe es?
    Keine. Er hockte neben dem leblosen Körper.
    Ich muß damit fertig werden, dachte er. Ich darf ihn jetzt nicht im Stich lassen. Wenn er in mir etwas gesehen hat, das ihm sehr ähnlich war, und wenn er mich deswegen nicht umbringen konnte – dann steht mir wirklich etwas bevor! Das ist es, ja, das ist es! Ich bin ein zweiter Spender, ein neuer Spender – aber ich überlege, ehe ich schieße. Ich schieße überhaupt nicht, ich töte nicht. Ich manipuliere Leute. Und er konnte mich nicht umbringen, weil ich – wenn auch mit etwas anderem Vorzeichen – er selbst war.
    Der Kapitän spürte die Sonnenstrahlen auf seinem Hals. Er hörte sich sagen: »Wenn er nur gekommen wäre und sich mit mir ausgesprochen hätte, ehe er jemanden umbrachte, hätten wir das Problem sicher klären können.«
    »Was denn klären?« fragte Parkhill. »Was hätten wir mit Typen wie dem schon klären können?«
    Die Hitze sang auf dem Land, über den Felsen, am blauen Himmel. »Sie haben wohl recht«, sagte der Kapitän. »Wir wären niemals richtig zusammengekommen. Ja, vielleicht Spender und ich allein. Aber Spender und Sie und die anderen – nein, niemals. Er hat es jetzt besser. Geben Sie mir noch einen Schluck aus der Wasserflasche.«
    Es war der Kapitän, der schließlich den leeren Sarkophag als Begräbnisstätte vorschlug. Sie hatten einen alten marsianischen Friedhof gefunden. Sie legten Spender in einen zehntausend Jahre alten Silbersarg, die Hände auf der Brust gefaltet. Sie betrachteten sein friedliches Gesicht.
    Einen Augenblick lang standen sie noch in dem alten Gewölbe beieinander. »Es wäre sicher gut, wenn Sie mal von Zeit zu Zeit an Spender denken würden«, sagte der Kapitän.
    Sie verließen das Gewölbe und schlossen die Marmortür.
    Am nächsten Nachmittag machte Parkhill in einer der toten Städte Zielübungen und zerschoß Kristallfenster und die Spitzen zerbrechlicher Türme. Der Kapitän erwischte Parkhill dabei und schlug ihm die Zähne ein.

August 2001 : Die

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