Die Mars-Chroniken
ruft einen Namen, nimmt die Verfolgung auf. »He, Sie, halt?« Und er sieht das Gesicht eines Verbrechers. Und überall entlang der Straße geschieht gleiches – Männer, Frauen, Nachtwächter, Raketenpiloten. Die eilige Gestalt bedeutet ihnen alles – Identität, Persönlichkeit, ein Name. Wie viele verschiedene Namen waren in den letzten fünf Minuten hinausgeschrien worden? Wie viele verschiedene Gesichter waren über Toms Gesicht gehuscht, keins das wahre?
Einen langen Weg hatten sie zurückgelegt, Verfolgter und Verfolger, Traum und Träumer, Beute und Jagdhunde. Und überall am Weg das plötzliche Erkennen, das Aufblitzen eines vertrauten Augenpaars, das Ausrufen eines altbekannten Namens, Erinnerungen an zurückliegende Ereignisse, während die Menge größer wurde. Und die Betroffenen sprangen vor, als der Traum wie eine Reflexion in tausend Spiegeln, tausend Augen, heranhuschte und vorbeieilte und jedem ein anderes Gesicht zeigte – den Menschen vor sich, hinter sich, den Menschen, die er noch nicht getroffen hatte und die er nicht sehen konnte.
Und da stehen sie nun alle am Boot, dachte LaFarge, und wollen ihren Traum, jeder will seinen Traum für sich, so wie wir uns wünschen, daß er Tom sei – nicht Lavinia oder Roger oder sonst jemand. Aber nun ist alles zu spät. Die Sache ist auf die Spitze getrieben worden.
»Kommt rauf – alle!« befahl Spaulding.
Tom kletterte an Land. Spaulding packte sein Handgelenk. »Du kommst mit nach Hause. Ich weiß Bescheid.«
»Einen Augenblick«, sagte der Polizist. »Er ist mein Gefangener. Dexter heißt er und wird wegen Mordes gesucht!«
»Nein!« schluchzte eine Frau. »Das ist mein Mann! Ich werde doch meinen Mann kennen!«
Andere Stimmen protestierten ebenfalls. Die Menge drängte näher.
Mrs. LaFarge stellte sich vor Tom. »Das ist mein Sohn. Sie haben kein Recht, ihm etwas vorzuwerfen. Und wir fahren jetzt auf der Stelle nach Hause!«
Tom stand da und zitterte am ganzen Leibe. Er sah elend aus. Die Menge wogte um ihn, streckte unruhige Hände aus, zupackend, verlangend.
Tom schrie.
Vor ihren Augen veränderte er sich. Er war zugleich Tom und James und ein Mann namens Switchman und ein anderer Mann, der Butterfield hieß, er war der Bürgermeister und ein junges Mädchen namens Judith und der Ehemann William und die Ehefrau Clarisse. Er war Wachs im Zugriff ihrer Gedanken. Sie brüllten, drängten heran, flehten. Er schrie, warf die Hände hoch, und sein Gesicht gab jedem Verlangen nach. »Tom!« brüllte LaFarge. »Alice!« schrie ein anderer. »William!« Sie packten seine Handgelenke und wirbelten ihn herum, bis er mit einem letzten Entsetzensschrei zu Boden stürzte.
Er lag auf dem Pflaster, das geschmolzene Wachs erkaltete, und sein Gesicht vereinigte viele Gesichter auf sich – ein blaues Auge und ein goldgelbes Auge, braunes, rotes, gelbes, schwarzes Haar, eine buschige und eine dünne Augenbraue, eine große Hand und eine kleine.
Sie standen über ihn gebeugt und hoben die Finger an das Gesicht. Sie bückten sich.
»Er ist tot«, sagte schließlich jemand.
Es begann zu regnen.
Der Regen fiel auf die Menschen herab, und sie sahen zum Himmel auf.
Zuerst langsam, dann schneller wandten sich die Menschen ab und gingen davon, begannen auseinanderzulaufen, entflohen der unheimlichen Szene. Nach kaum einer Minute lag der Platz verlassen da. Nur Mr. und Mrs. LaFarge waren zurückgeblieben, den Blick gesenkt, Hand in Hand, entsetzt.
Der Regen traf das nach oben gerichtete Gesicht.
Anna sagte nichts; sie begann zu weinen.
»Komm nach Hause, Anna – wir können doch nichts daran ändern«, sagte der alte Mann.
Sie stiegen in ihr Boot und fuhren in der Dunkelheit auf dem Kanal zurück. Sie betraten ihr Haus ud zündeten ein kleines Feuer an und wärmten sich die Hände. Sie gingen ins Bett und lagen beieinander, kalt und dürr, und lauschten auf den Regen, der auf das Dach trommelte.
»Hör mal«, sagte LaFarge um Mitternacht. »Hast du nichts gehört?«
»Nein, nichts.«
»Ich sehe trotzdem mal nach.«
Er tastete sich unsicher durch den dunklen Raum und wartete lange Zeit hinter der Tür, ehe er sie öffnete.
Er zog sie weit auf und schaute hinaus.
Aus dem schwarzen Himmel strömte Regen auf den leeren Hof und in den Kanal und hüllte die blauen Berge ein.
Er wartete fünf Minuten lang. Dann, mit nassen Händen, machte er die Tür zu und verriegelte sie wieder.
November 2005: Der Gepäckladen
Als der Besitzer des Kofferladens
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