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Die Mars-Chroniken

Die Mars-Chroniken

Titel: Die Mars-Chroniken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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wirklich bin; sie hat es erraten wie du. Ich nehme an, daß überhaupt alle Bescheid wissen, aber niemand ist neugierig. Die Vorsehung stellt man nicht in Frage. Wenn man die Wirklichkeit nicht haben kann, ist die Illusion ein willkommener Ersatz. Ich bin zwar nicht die heimgekehrte Tochter, aber auf meine Weise bin ich etwas Besseres; ein von ihnen geformtes Idealbild. Ich habe die Wahl – entweder muß ich ihnen Schmerz zufügen oder deiner Frau.«
    »Sie sind fünf in der Familie. Sie können den Verlust besser ertragen!«
    »Bitte!« sagte die Stimme. »Ich bin müde!«
    Die Stimme des alten Mannes wurde fester. »Du mußt mitkommen. Ich kann nicht zulassen, daß Anna noch einmal einen Schock erleidet. Du bist unser Sohn. Du bist mein Sohn, und du gehörst zu uns.«
    »Nein, bitte!«
    Der Schatten zitterte.
    »Du gehörst nicht in dieses Haus oder zu diesen Leuten!«
    »Nein, tu mir das nicht an!«
    »Tom, mein Sohn, hör zu! Komm runter. Steig an den Ranken herab, Junge, los, komm. Anna wartet; wir geben dir ein gutes Heim, alles, was du brauchst.« Er starrte nach oben und legte seine ganze Willenskraft in den Blick.
    Der Schatten geriet in Bewegung, in den Ranken raschelte es.
    Schließlich sagte die leise Stimme: »Gut, Vater.«
    »Tom!«
    Im Mondlicht glitt die Gestalt eines Jungen behend durch die Blätter. LaFarge streckte die Arme aus und fing ihn auf.
    Oben gingen die Lichter an. Hinter einem der vergitterten Fenster ertönte eine Stimme. »Wer ist da?«
    »Beeil dich, Junge!«
    Mehr Licht, mehr Stimmen. »Halt, oder ich schieße! Vinny, ist alles in Ordnung?« Schnelle Schritte.
    Der alte Mann und der Junge rannten durch den Garten.
    Ein Schuß krachte. Die Kugel fuhr in den Zaun, als sie das Gartentor zuschlugen.
    »Tom, dort entlang; ich renne hier herum und führe sie in die Irre. Du läufst zum Kanal; ich komme in zehn Minuten nach, Junge!«
    Sie trennten sich.
    Der Mond versteckte sich hinter einer Wolke. Der alte Mann stolperte durch die Dunkelheit.
    »Anna, ich bin’s!«
    Die alte Frau half ihm zitternd in das Boot. »Wo ist Tom?«
    »Er muß gleich hier sein«, sagte LaFarge schweratmend.
    Sie wandten sich um und beobachteten die Gassen und die schlafende Stadt. Noch immer waren Leute unterwegs: Spaziergänger, ein Polizist, ein Nachtwächter, ein Raketenpilot, mehrere Männer nach nächtlichem Rendezvous, vier Männer und Frauen, die lachend aus einer Bar kamen. Irgendwo spielte Musik.
    »Warum kommt er nicht?« fragte die alte Frau.
    »Er kommt, er kommt.« Aber LaFarge wurde unruhig. Wenn nun der Junge wieder gefangen worden ist, irgendwie, irgendwo zwischen Haus und Steg, irgendwo auf seinem Lauf durch die mitternächtlichen Straßen mit ihren dunklen Häusern? Es war ein langer Weg, selbst für einen Jungen. Trotzdem hätte er als erster hier sein müssen.
    Und dort hinten, weit entfernt auf der mondhellen Straße, rannte eine Gestalt.
    LaFarge begann zu rufen und verstummte wieder, denn hinter der Gestalt waren andere Stimmen und hastende Schritte zu hören. Lichter gingen an, ein Fenster nach dem anderen wurde hell. Über den offenen Platz am Steg rannte die Gestalt. Es war nicht Tom, es war der verwischte Umriß einer Gestalt mit einem Gesicht, das im Licht der Kugellampe, die den Platz säumte, silbrig schimmerte. Und immer näher kam das Wesen, und je näher es kam, desto vertrauter wurde es, bis es auf dem Steg zu Tom geworden war! Anna streckte ihm die Hände entgegen, und La Farge wollte hastig ablegen. Doch es war zu spät.
    Denn aus der Straße eilte jetzt ein Mann auf den Platz, gefolgt von einem zweiten Mann, einer Frau, zwei weiteren Männern, Mr. Spaulding, rennend. Verblüfft hielten sie inne. Sie sahen sich verwirrt um, wollten umkehren, denn das konnte doch nur ein Alptraum sein, so verrückt war alles. Aber dann kamen sie doch näher, zögernd, stockend, weitergehend.
    Es war zu spät. Die Nacht, das Ereignis war vorbei. LaFarge drehte unschlüssig das Tau in den Händen. Er fröstelte und fühlte sich sehr einsam. Die Menschen hoben und senkten im Mondlicht geisterhaft die Füße und kamen, die Augen aufgerissen, sehr schnell näher, bis die Menge den Steg erreicht hatte und dort verharrte. Sie starrten mit wirren Blicken in das Boot. Sie schrien auf.
    »Stehenbleiben, LaFarge!« Spaulding hob das Gewehr.
    Und jezt war klar, was geschehen war. Tom, der allein durch die mondhellen Straßen rennt und dabei Menschen passiert. Ein Polizist sieht die Gestalt vorübereilen,

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