Die Mars-Chroniken
mit uns lebt – endlich zufrieden und anerkannt? Von welchem Berg, aus welcher Höhle kommt es, welcher kleinen verlorenen Rasse gehört es an, die auf dieser Welt schon existierte, als Raketen von der Erde eintrafen? Der alte Mann schüttelte den Kopf. Antworten gab es nicht auf seine Fragen. Das kleine Wesen hatte eben Tom zu sein und niemand anderer.
Der alte Mann schaute zur Stadt hinüber, und der Anblick gefiel ihm nicht. Doch schon kehrten seine Gedanken zu Tom und Anna zurück, und er überlegte: Vielleicht ist es nicht richtig, Tom überhaupt bei uns zu behalten – und sei es nur für kurze Zeit. Was kann denn schon dabei herauskommen außer Kummer und Probleme? Wie sollten wir andererseits gerade dem entsagen, was wir uns immer sehnlichst wünschten – auch wenn es nur einen Tag bleibt und dann wieder verschwunden ist, wenn es die Leere noch schrecklicher erscheinen läßt, die dunklen Nächte noch dunkler, die regnerischen Nächte noch nasser? Eher könnte man uns das Essen von der Gabel stehlen, als uns dieses Wesen wieder zu nehmen.
Und er blickte auf den Jungen hinab, der friedlich im Boot schlummerte. Der Junge wimmerte im Traum. »Die Leute«, murmelte er im Schlaf. »Ändern und verändern. Falle.«
»Ruhig, ruhig, Junge.« LaFarge strich dem Jungen über die weichen Locken, und Tom wurde still.
LaFarge half seiner Frau und seinem Sohn aus dem Boot.
»Da wären wir!« Anna lächelte zu den Lichtern hinüber, hörte die Musik aus den Gaststätten, die Pianos, die Fonografen, beobachtete die herüberschauenden Leute, die untergehakt auf den belebten Straßen promenierten.
»Ich wünschte, ich wäre zu Hause«, sagte Tom.
»So hast du ja noch nie gesprochen«, sagte die Mutter. »Dir haben die Samstagabende in der Stadt doch immer Spaß gemacht.«
»Bleib bei mir«, flüsterte Tom. »Ich möchte nicht gefangen werden.«
Anna hatte die Worte gehört. »Nun hör aber auf mit dem Gerede; komm endlich!«
LaFarge bemerkte, daß der Junge seine Hand nahm. LaFarge drückte sie. »Ich bleibe bei dir, Junge.« Er betrachtete das lebhafte Hin und Her und wurde ebenfalls unruhig. »Wir bleiben nicht lange.«
»Unsinn, wir haben den ganzen Abend Zeit«, sagte Anna.
Sie überquerten die Straße, und drei Betrunkene stolperten ihnen in den Weg. Einen Augenblick herrschte großes Durcheinander, sie wurden getrennt und herumgewirbelt, und plötzlich blieb LaFarge verblüfft stehen.
Tom war verschwunden.
»Wo ist er denn?« fragte Anna aufgebracht. »Immer muß er weglaufen. Tom!« rief sie.
Mr. LaFarge hastete durch die Menge, doch Tom war verschwunden.
»Er kommt wieder; er ist bestimmt am Boot, wenn wir heimfahren«, sagte Anna überzeugt und führte ihren Mann zurück zum Lichtspieltheater. Plötzlich entstand Bewegung in der Menge, und ein Mann und eine Frau rannten an LaFarge vorüber. Er erkannte sie – Joe Spaulding und seine Frau. Sie waren in der Menge untergetaucht, ehe er etwas zu ihnen sagen konnte.
Nervös über die Schulter schauend, löste er die Eintrittskarten und ließ sich von seiner Frau widerstrebend in die Dunkelheit zerren.
Um elf Uhr war Tom nicht am Bootssteg. Mrs. LaFarge wurde sehr blaß.
»Mutter«, sagte LaFarge, »fang nicht an, dir Gedanken zu machen. Ich finde ihn schon. Warte hier.«
»Beeil dich.« Ihre Stimme ging im Plätschern des Wassers unter.
Er wanderte durch die nächtlichen Straßen, die Hände in den Taschen. Ringsum gingen nach und nach die Lichter aus. Noch lehnten hier und da Menschen in den Fenstern, denn es war eine warme Nacht, obwohl von Zeit zu Zeit Regenwolken die Sterne am Himmel verdunkelten. Während er dahinschritt, dachte er an die große Angst des Jungen, gefangen zu werden, an seine Angst vor Menschenmengen und Städten. Es hat keinen Sinn, dachte der alte Mann müde. Vielleicht war der Junge für immer verschwunden, vielleicht hat es ihn nie gegeben. LaFarge bog in eine Gasse ein und zählte die Hausnummern ab.
»Hallo, LaFarge.«
Ein Mann saß auf der Schwelle seiner Haustür und rauchte Pfeife.
»Hallo, Mike.«
»Hast du Streit mit deiner Frau gehabt und marschierst dir den Ärger vom Leib?«
»Nein. Ich bin nur so unterwegs.«
»Du siehst aus, als hättest du etwas verloren. Ach, da wir gerade von etwas Verlorenem sprechen«, sagte Mike, »heute abend hat sich übrigens jemand wiedergefunden. Kennst du Spaulding? Erinnerst du dich an seine Tochter Lavinia?«
»Ja.« LaFarge fröstelte. Er glaubte einen Traum zu haben, den er
Weitere Kostenlose Bücher