Die Marseille-Connection
Ansprüche? Vielleicht hat Fernandinho doch recht, und du willst uns verarschen.«
Garrincha legte die Hände zusammen wie einst am Tage seiner Kommunion. »Ich bitte dich um Entschuldigung. Ich werde tun, was du sagst.«
Der Brasilianer vergnügte sich damit, ihn zappeln zu lassen, und weidete sich an seiner Angst. Nach einer Weile, die Esteban unendlich erschien, geruhte er den Mund aufzumachen. »Wir warten noch auf das Okay von unseren französischen Freunden. Wenn wir es haben, kriegst du von uns einen falschen Pass und ein Flugticket.«
»Und bis dahin?«
»Putzt du bei uns die Scheißhäuser. Du machst dir ja kein Bild, wie viel die scheißen, diese Scheißtouristen«, und er strich sich den Bauch. »Liegt an der Samba. Auf die Touris wirkt die wie ein Abführmittel.«
51° 30' N 00° 10' W
Innerhalb der Familie sprach Sunil Banerjees Mutter ausschließlich Gujarati, angeblich, damit die englischen Hausangestellten nicht lauschen konnten. Wenn ihr Sohn sie in dem prunkvoll ausgestatteten Haus in London besuchte, bestandsie darauf, dass er traditionelle Kleidung anlegte, solche wie die schweren, an der Wand hängenden Stücke der Vorfahren. Sunil tat ihr gern den Gefallen, denn er hing sehr an seiner Mutter.
»Dein Vater ist ziemlich böse auf dich«, sagte sie.
»Du weißt genau, ich habe nicht die geringste Absicht, eine Restaurantkette zu führen. Das ist eine Kugel an den Füßen, die mich über kurz oder lang in den Abgrund ziehen würde.«
»Dein Vater braucht dich aber, jetzt, wo er beschlossen hat, in die Niederlande zu expandieren. Außerdem bist du der einzige Sohn, was soll sonst aus dem Familienunternehmen werden?«
»Ich werde es mit Vergnügen an die Chinesen verkaufen.«
»Sunil, du bist wirklich unmöglich.«
»Nein, ich bin vorausschauend in ökonomischen Fragen.«
Seine Mutter seufzte. »Kann ich wenigstens darauf hoffen, meine Familie wiedervereint zu sehen? Ich will euch nicht mehr nur getrennt voneinander sehen.«
»Wenn mein geliebter Vater verspricht, mich nicht zu nerven …«
»Er wird sich nicht zurückhalten können, du kennst ihn doch.«
»Das bedeutet, dass ich seine junge hinduistische Geliebte erwähne.«
Seine Mutter kicherte. »Das wäre wirklich lustig. Eine Hindu! Wenigstens hat deine Schwester sich überzeugen lassen, sich mit einem Parsen zu verloben.«
»Weil du ihr gedroht hast, nicht mehr finanziell für ihr süßes Nichtstun geradezustehen und sie zur Arbeitssuche zu zwingen!«
»Hör auf mit deinen Witzen. Sag mir lieber, wann du endlich heiratest. Dein Vater hat ein sehr hübsches Mädchen für dich gefunden.«
»Die ist doch fast noch ein Kind, sie geht auf das Zoroastrian College in Mumbai, und ich habe sowieso nicht vor, so bald zu heiraten.«
»Wann wirst du endlich anfangen, dich wie ein Parse zu benehmen?«
»Mama, Freddie Mercury war ein Parse. Zubin Mehta ist Parse. Unsere Welt hat sich weiterentwickelt seitdem«, und er deutete auf einen Druck aus dem Jahre 1878, der drei Männer und einen kleinen Jungen zeigte.
Er spürte, wie eines seiner Mobiltelefone in seiner Hosentasche vibrierte. Nur eine einzige Person kannte diese Nummer. Er entschuldigte sich und zog sich in sein Zimmer zurück, das seit seiner Zeit auf der Uni unverändert geblieben war.
»Hi, Sosim! Heißt dein Anruf, dass du den großen Schritt gewagt hast?«, fragte er aufgeregt und betrachtete dabei ein gerahmtes Foto. Es war vor einigen Jahren in einem Studentenpub in Leeds aufgenommen worden. Vorne links stand er selbst, daneben Sosim, dann kamen ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren und ein weiterer junger Mann mit Lockenkopf. Pints und fröhlich lachende, respektlose Gesichter.
»Marseille? Wolltest du nicht nach Zürich?«, fragte er überrascht. Mit offenkundiger Sorge lauschte er der Antwort. »Dann müssen wir unsere Pläne anpassen.« Sie machten ein Treffen aus und legten auf. Sein Herz klopfte stark. Das damals im Gespräch entstandene Projekt sollte jetzt Wirklichkeit werden. Noch hätte er sich zurückziehen können, aber das würde er nie tun. Dieser Plan war derart genial und durchgeknallt,dass er jeden Einsatz wert war. Sogar den des Lebens.
Er dachte daran, wie ihm der russische Kommilitone zum ersten Mal aufgefallen war. Sosim joggte durch den Saint George’s Park. Die Sohlen seiner Laufschuhe berührten kaum den Boden. Rhythmus, Tempo. Sunil war von seinem verstörten Gesichtsausdruck betroffen gewesen. Er kannte ihn nur zu gut, er sah ihn
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