Die Masken der Niedertracht
in Arbeitsgruppen, die unter Druck stehen, leicht Konflikte entstehen. Die neuen Arbeitsformen, die darauf abzielen, die Leistungen der Unternehmen zu steigern und dabei alle humanen Elemente beiseite lassen, bewirken Streß und schaffen günstige Voraussetzungen für das Ausbrechen von Perversität.
Zunächst ist Streß eine Erscheinung der Anpassung des Organismus an eine Aggression, gleich welcher Art. Bei den Tieren ist es eine Überlebensreaktion. Gegenüber einer Aggression haben sie die Wahl zwischen Flucht und Kampf. Für den Arbeitnehmer gibt es eine solche Wahl nicht. Sein Organismus reagiert wie der der Tiere, in drei aufeinander folgenden Phasen: Alarm, Widerstand, Erschöpfung. Aber dieses physiologische Phänomen hat seine ursprüngliche Bedeutung der physischen Vorbereitung eingebüßt – zugunsten sozialer und psychologischer Anpassung. Man verlangt von den Arbeitnehmern, zuviel und unter Druck zu arbeiten und möglichst vielseitig zu sein. In ihrem Jahresbericht 1996 haben Arbeitsmediziner aus Bourg-en-Bresse die Folgen der Flexibilität bei Arbeitnehmern in den Schlachthäusern analysiert: «Es bestehen, das ist wahr, ökonomische Zwänge, die schwer auf diesem Gewerbezweig lasten. Wenn man aber genauer hinsieht, stellt man fest, daß gewisse Schlachthäuser die <üblichen> Zwänge noch überbieten durch permanente Steigerung der Anforderungen, durch übermäßige und untypische Arbeitszeiten und in zunehmendem Maße durch einen beispiellosen Mangel an Anerkennung.»
Der Arbeitsstreß und die Kosten der gesundheitlichen Folgen werden noch kaum quantifiziert. Streß ist weder als Berufskrankheit anerkannt noch als unmittelbare Ursache dafür, daß jemand krankgeschrieben wird. Dennoch stellen Arbeitsmediziner und Psychiater eine Zunahme der psychosomatischen Störungen, des Alkoholmißbrauchs oder der Psychotrope fest, gekoppelt an zu starken Arbeitsdruck.
Die Zerrüttung eines Unternehmens erzeugt immer Streß – ob es sich um eine unzureichende Definition der Rollen handelt (man weiß nicht, wer was tut, wer für was verantwortlich ist), um ein unsicheres Organisationsklima (jemand wurde auf eine Stelle berufen, und man weiß nicht, ob er bleiben wird) oder auch um ein Fehlen von Absprache (Entscheidungen werden getroffen ohne Übereinkunft der Beteiligten). Die Schwerfälligkeit mancher Geschäftsführungen oder stark gegliederter Unternehmen erlaubt es gewissen machthungrigen Individuen, andere ungestraft permanent zu verfolgen.
Gewisse Unternehmen sind wahre «Zitronenpressen». Sie schlagen die Gefühlssaite an, nutzen ihr Personal aus, indem sie immer mehr Leistung verlangen, indem sie vieles vorgaukeln. Wenn der ausgelaugte Arbeitnehmer nicht mehr rentabel genug ist, entledigt sich das Unternehmen seiner ohne die geringste Gemütsbewegung. In der Arbeitswelt wird im höchsten Maße manipuliert. Auch wenn im Prinzip das Gefühl dort nicht unmittelbar im Spiel ist, geschieht es nicht selten, daß ein Unternehmen, um sein Personal zu motivieren, persönliche Beziehungen herstellt, die bei weitem über die normale vertragliche Beziehung hinausgehen, die man zu seinem Arbeitgeber haben kann. Man verlangt von den Arbeitnehmern, sich mit Leib und Seele einzusetzen, in einem System, das die Soziologen Nicole Aubert und Vincent de Gaulejac 14 als «managinaire» 15 bezeichnet haben, und verwandelt sie so in «glückliche Sklaven». Einerseits verlangt man zuviel von ihnen, mit allen Streßfolgen, die davon herrühren. Auf der anderen Seite gibt es keinerlei Anerkennung ihrer Anstrengungen und ihrer Person. Sie werden austauschbare Schachfiguren.
Im übrigen richtet man es in gewissen Unternehmen so ein, daß die Angestellten nicht zu lange auf demselben Posten bleiben, wo sie zuviel Fachkenntnisse erwerben könnten. Man beläßt sie in andauernder Unwissenheit, Unterlegenheit. Jede Originalität oder persönliche Initiative stört. Man zerschlägt die Begeisterung und die Motivation, indem man jede Verantwortung und jede Schulung verweigert. Die Angestellten werden behandelt wie undisziplinierte Schüler. Sie können nicht lachen oder sich entspannt geben, ohne sofort zur Ordnung gerufen zu werden. Nicht selten wird sogar verlangt, daß sie Selbstkritik üben, zum Beispiel während einer wöchentlichen Versammlung, wodurch die Arbeitsgruppen in Schauplätze öffentlicher Demütigung verwandelt werden.
Was diesen Prozeß noch verschärft, ist die Tatsache, daß ein Teil der Angestellten
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