Die Masken der Niedertracht
anderen Angestellten halten Distanz, denn die, die ihr zu nahe zu stehen scheinen, werden auch sogleich niedergemacht.
Wie so viele Opfer hat Lucie gezögert, auf dieses seelische Quälen zu reagieren. Unbewußt hatte sie ihrem Chef eine Vaterrolle zugewiesen.
Am Tag, als sie hört, wie er einer Kollegin gegenüber beleidigende Äußerungen über sie fallenläßt, verlangt sie eine Unterredung.
«Sie haben mich beleidigt, was haben Sie mir vorzuwerfen?»
«Ich habe vor nichts und vor niemandem Angst. Kündigen Sie.»
«Ich gehe nicht, bevor Sie mir nicht gesagt haben, was Sie mir vorzuwerfen haben.»
In diesem Augenblick verliert der Chef seine Selbstbeherrschung. Wütend wirft er seinen Schreibtisch um und zerschlägt alles um sich herum: «Sie sind ein Versager, Ihre Bissigkeit steht mir bis oben!»
Da er nicht versteht, daß sie nicht nachgibt, spielt der Chef die Karte des Terrors. Er kehrt die Rollen um und stellt sich als Opfer einer aggressiven Angestellten hin.
Lucie, die lange Zeit das Gefühl gehabt hatte, von ihm beschützt zu werden, kann die Verachtung und den Haß nicht begreifen, die sie in seinen Augen entdeckt. Aber die körperliche Gewalt dient als Auslöser. Sie beschließt, Klage einzureichen. Ihre Kollegen versuchen, ihr das auszureden: «Laß das, Du wirst Ärger bekommen. Er wird sich schon wieder beruhigen!» Sie hält durch und ruft ihren Rechtsanwalt an, um zu erfahren, wie sie vorgehen muß. Zitternd und unter Tränen erstattet sie Anzeige bei der Polizei. Dann sucht sie einen Arzt auf, der ihr ein Attest über eine vorübergehende völlige Arbeitsunfähigkeit für einen Zeitraum von acht Tagen aushändigt. Spätabends geht sie nochmals ins Büro, um ihre Tasche zu holen.
Klage zu erheben ist die einzige Möglichkeit, dem Psychoterror ein Ende zu bereiten. Aber man muß Mut haben oder wirklich am Ende sein, denn dieser Schritt bedeutet den endgültigen Bruch mit dem Arbeitgeber. Darüber hinaus ist weder sicher, daß die Klage angenommen wird, noch daß das eingeleitete Verfahren einen positiven Ausgang nimmt.
Das Unternehmen, das gewähren läßt
Dieser Typus von Vorgehensweisen ist nur möglich, wenn man im Unternehmen die Augen verschließt oder das Gewährenlassen gar fördert. Es gibt Geschäftsleitungen die es wohl verstehen, autoritäre Maßnahmen zu ergreifen, wenn ein Arbeitnehmer unfähig ist oder seine Leistungen ungenügend, aber sich nicht in der Lage sehen, einem Arbeitnehmer einen Verweis zu erteilen, der sich respektlos oder unfreundlich gegenüber einem anderen Angestellten verhält. Man respektiert die Privatsphäre, man mischt sich da nicht ein, im Glauben, die Angestellten seien erwachsen genug, um allein zurechtzukommen. Aber von Respekt vor dem Individuum zeugt das nicht.
Wenn das Unternehmen sich nachsichtig zeigt, schafft die Perversion Nacheiferer, die nicht selbst gestört sind, die aber ihre Orientierung verlieren und sich überzeugen lassen. Sie finden es nicht mehr schockierend, daß ein einzelner auf beleidigende Art und Weise behandelt wird. Man weiß nicht, wo die Grenze liegt zwischen dem Fall, jemanden «herunterzuputzen», um ihn anzuspornen, und dem, ihn zu quälen. Die Grenze fällt zusammen mit der Achtung vor dem anderen; aber in einem Zusammenhang von Wettbewerb in alle Richtungen gerät der Sinn dieses Begriffs, obwohl in der Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben, bisweilen in Vergessenheit.
Die drohende Arbeitslosigkeit macht es möglich, Arroganz und Zynismus zu Managementmethoden zu erheben. In einem System erbitterter Konkurrenz werden Kälte und Härte zur Regel. Wettbewerb mit welchen Mitteln auch immer gilt als gesund, und die Verlierer werden zu Abfall.
Wer die offene Auseinandersetzung fürchtet, bedient sich keiner direkten Methoden, um die Macht zu erlangen. Er manipuliert den anderen auf hinterhältige oder sadistische Art und Weise, um Unterwerfung zu erreichen. So erhöht man sein Selbstbild, indem man den anderen herabsetzt.
In einem solchen Zusammenhang kann ein machthungriger einzelner die ringsum herrschende Verwirrung ausnützen, um ganz ungestraft seine potentiellen Rivalen zu vernichten. Ein einziges Individuum, das vom Unternehmen nicht überwacht wird, kann völlig ungestraft andere manipulieren und zerstören, um die Macht zu erobern oder zu bewahren.
Eine gewisse Anzahl von Eigenschaften des Unternehmens kann die Verwirklichung dieses Terrors erleichtern.
Kein Fachmann bestreitet, daß
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