Die Masken der Wahrheit
Besinnung kam. Dreimal führte Straw mir vor, wie jemand entdeckt, daß man ihn bestohlen hat; er erklärte mir die Wichtigkeit von Kopfbewegung und deutlicher Gebärde wie auch den Zustand des regungslosen Verharrens, wenn das, was der Mime sagen will, in eben dieser stummen Bewegungslosigkeit zum Ausdruck kommt.
Springer gab sein Alter mit fünfzehn Jahren an, war sich aber nicht sicher. Er spielte Frauenrollen und konnte mit hoher Stimme singen, und sein Gesicht war wie Gummi, das er nach Belieben zu verziehen vermochte, und er konnte den Hals verdrehen wie eine Gans, daß man stets darüber lachen mußte, egal, wie oft er es tat. Er hatte ein freundliches Wesen und war zurückhaltend und ohne Bösartigkeit. Er stand Straw sehr nahe, und die beiden verbrachten viel Zeit miteinander. Springer stammte aus einer Familie reisender Spielleute, sein Vater war Akrobat gewesen und hatte den Jungen verlassen, als der noch ein kleines Kind gewesen war. Während wir unseres Weges zogen, zeigte Springer mir am Straßenrand, wie man ein Rad schlug und einen Salto vollführte. Er konnte den Rücken krümmen wie einen Reifen, so daß nur die Fersen und der Kopf den Boden berührten, und aus dieser Stellung heraus schnellte er dann wie eine Peitsche nach vorn und stand wieder aufrecht da. Ich konnte nicht darauf hoffen, es ihm darin gleichzutun, doch die Sprungartistik übte ich, so oft es nur ging. Ich bin flink und leichtfüßig und eignete mir eine gewisse Geschicklichkeit darin an, indem ich mit Straw und Tobias übte, die ein Seil in die Höhe hielten, über das ich hinweghüpfen mußte.
Mir schien, daß Stephen keine so große schauspielerische Kunstfertigkeit besaß wie diese beiden. Es kümmerte ihn nicht so sehr wie Springer und Straw. Doch er war hochgewachsen und besaß eine tiefe Stimme und ein gutes Gedächtnis für seine Texte. Er spielte meist Rollen, die Würde und eindrucksvolles Auftreten erforderten: Gottvater, König Herodes im Zorn, den Erzengel Michael. Mehrere Jahre lang war Stephen Bogenschütze gewesen und hatte im Sold der Familie Sandville gestanden, der Earls von Nottingham – jenes Adelsgeschlechts, dem diese Schauspielertruppe gehörte. Stephen hatte für die Sandvilles geraubt und für sie gekämpft, zuerst gegen Sir Richard Damory und anschließend gegen den Earl von March. Bei einem Scharmützel wurde er von den Mannen des Earls gefangengenommen, und sie trennten ihm das erste Glied des rechten Daumens ab, so daß er fortan nicht mehr zum Bogenschützen taugte und sich nach einem anderen Gewerbe umschauen mußte. Die Verstümmelung wurde auf Geheiß des Earls vorgenommen; dennoch war Stephen ein Bewunderer der Aristokratie und stolz auf seine Teilnahme an den blutigen Unruhen. »Ich kenne Männer, denen hat man die Augen ausgestochen«, erzählte er. »Ich kann noch von Glück sagen.« In einem Beutel am Gürtel trug er ein bronzenes Medaillon bei sich, das den heiligen Sebastian zeigte, den Schutzpatron der Bogenschützen. Es war ein Zeichen des Vertrauens von Stephens Seite, als er mir am dritten Tag dieses Medaillon wie auch seinen verstümmelten Daumen zeigte.
Margaret war seinetwegen bei uns. Sie zankten sich, wenngleich in diesen Tagen weniger häufig, wie man mir sagte, weil sie nicht genug Geld hatten, um sich zu betrinken. Margaret hatte ehedem als Hure gelebt und machte kein großes Geheimnis daraus. Sie besaß eine scharfe Zunge und eine sanfte Hand. An der Schauspielerei nahm sie nicht teil und an den Beratungen, die wir abhielten, in nur sehr geringem Maße. Sie verdiente sich ihren Platz in der Truppe, indem sie für alle die Wäsche wusch und die Sachen flickte und das Essen bereitete, wenn es mal etwas für den Kochtopf gab. Letzteres hing oft von der sechsten Person ab, Tobias, der die Menschheit verkörperte und bei Nebenfiguren Doppelrollen übernahm und alle möglichen untergeordneten Teufel und Hilfsdämonen darstellte. Außerdem konnte er die Trommel und den Dudelsack spielen. Stets betrachtete er die Dinge von ihrer praktischen Seite; deshalb hörte man auch auf ihn. Tobias war unser Mädchen für alles; er kümmerte sich um das Pferd, hielt den Karren so gut instand, wie er konnte, fertigte Drahtschlingen für den Kaninchenfang und holte mit seiner Schleuder mitunter ein Rebhuhn oder eine Wachtel vom Himmel. Geduldig versuchte er, dem Hund beizubringen, Jagdvögel aufzuscheuchen, bis dahin aber ohne Erfolg. Das Tier war guten Willens, doch ohne jeden
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