Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
Vom Netzwerk:
trug, und ich konnte keinen Ausdruck darauf erkennen. »Immer fragt Ihr nach dem Grund für alle Dinge«, sagte er. »Der Same war schon im Boden. Jede Pflanze braucht gewisse Zeit zu wachsen, und mitunter kann es sehr lange dauern, doch wenn der Tag gekommen ist, öffnen die Blüten sich rasch. Und in diesem Fall hat der Mönch noch für Sonne und Wasser gesorgt; ohne Zweifel war er ein sehr geschickter Gärtner.«
       Wir gelangten zur Tür des Gefängnisses, und einer der Bewaffneten hämmerte mit der gepanzerten Faust dagegen. Der Wärter murrte, als er durchs Gitterloch spähte, verstummte jedoch, als er sah, mit wem er es zu tun hatte, und er öffnete uns und verbeugte sich tief. Ich wartete ganz für mich allein auf der engen Gasse. Auch andere blieben draußen bei ihren Pferden, doch hielt ich Abstand zu ihnen. Die Antwort des Richters hatte mich nicht zufriedengestellt. Ich fragte mich, wer einen solchen Samen gesät haben mochte und wann dies geschehen war. Vielleicht, dachte ich bei mir, hatte der Satan es zu einer Zeit getan, da Herr William schlief, oder als er noch zu jung gewesen war, zu erkennen, was ihm widerfuhr – vielleicht war er da noch jünger als Thomas Wells gewesen, den er gequält und getötet hatte …
       Als sie wieder herauskamen, schritt das Mädchen frei und ungehindert zwischen ihnen. »Sie ist jetzt in Eurer Obhut«, sagte der Richter, und er führte sie zu mir und legte ihre Hand in die meine. Aber nicht ich war es, dem sie zu danken hatte, und das wußte sie. Sie gab keinen Laut von sich, doch als der Richter mit Hilfe einer seiner Leute wieder in den Sattel gestiegen war, löste sie sich von mir und trat zu ihm und nahm seine Hand, um sie zu küssen. Es war die erste Geste, die sie in Freiheit vollführte. Der Richter lächelte auf ihren gesenkten Kopf hinunter, und es war das erste Lächeln ohne Ironie, das ich auf seinem Gesicht gesehen hatte. Unwillkürlich kam mir der Gedanke, wie sonderbar es doch war, daß er diese Dankbarkeit entgegennahm, als stehe sie ihm zu – ich konnte ihm vom Gesicht ablesen, daß er dieser Meinung war –, wo das Leben der Frau ihn doch nicht im mindesten gekümmert hatte; sie war durch einen puren Zufall dem Tod durch Erhängen entgangen, gewissermaßen durch einen Nachgedanken, durch eine beiläufige Änderung im Text des Stückes.
       »Dies ist ein Beispiel für des Königs Gerechtigkeit«, sagte ich. »Was ist mit der Gerechtigkeit Gottes?«
       Noch immer lächelnd, wendete er sein Pferd. »Die ist noch schwerer zu verstehen«, sagte er. »Es ist nicht der König, der uns mit der Pest heimsucht. Ihr seid mir von Nutzen gewesen, Nicholas Barber, und gern würd’ ich Euch helfen, wenn ich könnte. Habt Ihr noch einmal über mein Angebot nachgedacht, daß ich mich darum bemühen würde, Euch wieder in des Bischofs Gnaden aufnehmen zu lassen?«
       Das hatte ich nicht, um die Wahrheit zu sagen; aber mir war auch nur wenig Zeit zum Nachdenken geblieben. Doch als ich nun im ersten Licht des Tages zu dem Richter emporschaute, da wußte ich, wie meine Antwort lauten mußte, und dies hatte unser Stück von Thomas Wells mich gelehrt. Ich würde nicht wieder nach Lincoln zurückkehren, es sei denn als Schauspieler. Ich wußte wenig von der Welt, wie der Richter erkannt hatte, doch ich wußte, daß wir uns in den Rollen verlieren können, die wir spielen – und wenn dies allzulange anhält, finden wir den Rückweg nicht mehr. Als ich im Amte eines Subdiakons für einen reichen Gönner Pilatos Fassung des Homer transkribiert hatte, war ich überzeugt gewesen, Gott zu dienen, doch in Wirklichkeit hatte ich nur auf Anweisung des Bischofs gehandelt, und der ist Prinzipal all jener, welche die Theatertruppe der Kathedrale bilden. Meine Rolle war die eines gedungenen Schreibers gewesen, doch ich hatte es damals nicht begriffen. Damals glaubte ich, es wäre mein wahres Selbst. Doch man dient Gott nicht durch Selbsttäuschung. Das heftige Verlangen, davonzulaufen, war keine Torheit gewesen, sondern die Weisheit meines Herzens. Ich würde Schauspieler sein, und ich würde versuchen, meine Seele zu schützen, anders als der Schauspieler in der Fabel. Und nie wieder würde ich mich in einer Rolle fangen lassen. »Ich danke Euch, Herr Richter«, sagte ich, »aber ich werd’ jetzt Schauspieler bleiben.«
       Der Richter nickte. Er lächelte nicht mehr. Sein Gesichtsausdruck war wachsam und kalt und ein wenig traurig, so wie damals, als ich begonnen

Weitere Kostenlose Bücher