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Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Malzieu
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deren Räder es in den Kurven von den Gleisen hebt. Ich jage auf den Schienen meiner Angst dahin. Wovor habe ich Angst? Vor mir? Nein, vor mir ohne dich, Madeleine! Panik packt mein Herz, mechanische Panik. Du hast mich gewärmt. Unsere letzte Umarmung ist noch nicht erkaltet, aber ich friere schon jetzt, als wäre ich dir nie begegnet, damals, am kältesten Tag aller Zeiten.
    Der Zug schüttelt sich mit schrillem Quietschen. Ich möchte die Zeit zurückdrehen und mein klappriges Herz in deinen sicheren Schoß betten. Das rhythmische Stampfen bringt mein Uhrwerk ins Stolpern. Beim nächsten Mal werde ich alles richtig machen, aber jetzt habe ich Popcorn im Herzen. Ach, Madeleine, ich habe noch nicht mal die Schatten Londons erreicht und schon all deine Tränen ausgetrunken! Madeleine, ich verspreche dir, beim nächsten Halt suche ich sofort einen Uhrmacher auf. Du wirst sehen, ich kehre in tadellosem Zustand zu dir zurück, vielleicht ein kleines bisschen verstellt, aber nur, damit du mich reparieren kannst.
    Je länger die Reise dauert, desto mehr Angst macht mir der Zug. Sein hölzernes Herz scheint aus dem letzten Loch zu pfeifen – so wie meins. Er muss unsterblich in die Lok verliebt sein, denn er folgt ihr blindlings in die Ferne. Vielleicht ist er auch traurig, weil er jemanden zurücklassen musste – so wie ich.
    Ich fühle mich einsam in dem leeren Abteil. Madeleines Tränen haben mir ein rotierendes Drehkreuz im Schädel beschert. Mir ist übel. Ich muss mich übergeben oder mit einem anderen Menschen reden. Weiter hinten im Wagen sitzt ein Mann mit dem Rücken zu mir am Fenster und schreibt. Von Weitem erinnert er mich an Arthur, aber als ich näher komme, verflüchtigt sich der Eindruck. Abgesehen vom Schatten, den er wirft, ist niemand in der Nähe. Trunken vor Einsamkeit spreche ich ihn an: »Was schreiben Sie da?«
    Der Mann zuckt zusammen und reißt den linken Arm vors Gesicht.
    »Habe ich Sie erschreckt?«
    »Du hast mich überrascht. Das ist nicht dasselbe.«
    Er schreibt weiter, ist bald wieder ganz in sich versunken und in eine andere Welt eingetaucht. Unter meiner Schädeldecke rotiert das Drehkreuz immer schneller. Weil ich mich einfach nicht vom Fleck rühre, schaut der Mann irgendwann wieder auf.
    »Was willst du, Kleiner?«
    »Ich fahre nach Andalusien, um das Herz eines Mädchens zu erobern, aber ich verstehe nichts von der Liebe. Keine der Frauen in meinem Leben wollte mir etwas darüber beibringen, und außerdem fühle ich mich ein bisschen einsam in diesem leeren Zug. Können Sie mir helfen?«
    »Da bist du an den Falschen geraten, mein Junge. Ich tue mich schwer mit der Liebe. Zumindest mit der Liebe zu Lebenden. Nein, mit den Lebenden wollte es nie richtig klappen.«
    Ich beginne zu frösteln. Ich werfe einen neugierigen Blick über die Schulter des Mannes, was ihn jedoch zu stören scheint.
    »Die Tinte ist ja rot …«
    »Weil es Blut ist! Und jetzt verschwinde, Kleiner. Hau ab!«
    Sorgfältig schreibt er immer wieder ein und denselben Satz auf verschiedene Zettel: Ihr ergebener Jack the Ripper.
    »Wir haben denselben Vornamen, halten Sie das für ein gutes Zeichen?«
    Er zuckt mit den Achseln und schüttelt leicht den Kopf, vielleicht weil er merkt, dass ich mich nicht so leicht abwimmeln lasse. In der Ferne pfeift die Lokomotive. Nebel sickert durch die offenen Fenster. Mittlerweile klappern mir vor Kälte die Zähne.
    »Verschwinde, Kleiner!«
    Er stampft mehrmals fest mit dem Fuß auf, als wolle er eine Katze verjagen. Ich bin zwar keine Katze, aber das Stampfen erschreckt mich trotzdem. Das Stakkato seines Fußes übertönt beinahe das Rattern des Zugs. Der Mann dreht sich zu mir um, seine Gesichtszüge sind scharf wie ein Skalpell.
    »Hau ab!«
    Die Wut in seinem Blick erinnert mich an Joe, und meine Beine beginnen unkontrolliert zu zittern. Der Mann erhebt sich von seinem Sitz, kommt auf mich zu und deklamiert:
    »O Nebel! Lass die Geisterzüge rattern, ich bringe dir Gespenster, von wunderschönen Frauen, von blonden, von brünetten, die ich im Nebel aufschlitze.«
    Seine Stimme wird zu einem heiseren Stöhnen.
    »Ja! Ich schlitze sie auf. Und unterzeichne mit ›Ihr ergebener Jack the Ripper!‹ Keine Angst, mein Kleiner, du wirst bald lernen, anderen Angst zu machen, um zu existieren! Ja! Du wirst bald lernen, anderen Angst zu machen, um zu existieren …«
    Mein Herz und mein Körper laufen auf Hochtouren, aber diesmal nicht aus Liebe. Ich renne den Gang hinunter. Niemand

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