Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

meiner Lippen zu überschreiten. Also bleiben mir nur die Arme, um die Botschaft rüberzubringen: Mit aller Kraft drücke ich sie an mich.
    »Vorsicht, pass auf deine Uhr auf, du wirst dir noch wehtun!«, sagt sie mit ihrer weichen und gleichzeitig brüchigen Stimme. »Und jetzt ab mit dir, ich will nicht, dass sie dich hier finden.«
    Wir lösen uns voneinander, und Madeleine öffnet die Tür. Ich bin noch im Haus, aber mir ist schon jetzt kalt bis in die Knochen.
    Während ich den vertrauten Weg hinablaufe, stürze ich ein ganzes Glas Tränen hinunter. Mein Rucksack wird dadurch leichter, aber mein Herz bleibt schwer. Ich verschlinge die Pfannkuchen, damit sie den Alkohol aufsaugen, und mein Bauch bläht sich auf, als wäre ich schwanger.
    Auf der anderen Seite laufen die Polizisten den Berg hoch, mit Joe und seiner Mutter im Schlepptau. Ich zittere vor Angst und vibriere vor Euphorie.
    Am Fuß von Arthur’s Seat wartet meine Kutsche unter einer Straßenlaterne, schwarz wie ein Stück Nacht. Bei meiner Ankunft klettern Anna, Luna und Arthur hastig hinein, und ich schlüpfe hinterher. Der Kutscher, dessen Schnurrbart sich bis hoch zu den Augenbrauen kringelt, treibt die Pferde mit Trümmerstimme an. Die Wange gegen das Fenster gepresst, beobachte ich, wie Edinburgh im Nebel verschwindet.
    Zwischen den Bergen erstrecken sich blau schimmernde Lochs , an denen ich ermessen kann, wie weit ich mich von zu Hause entferne. Arthur schnarcht wie eine Dampflokomotive. Annas und Lunas Köpfe wackeln hin und her, sie sitzen eng beieinander und sehen aus wie siamesische Zwillinge. Das Ticken meiner Uhr hallt durch die Nacht. Plötzlich dämmert mir, dass die anderen drei ohne mich nach Edinburgh zurückfahren werden.
    Im Morgengrauen werde ich von einem schiefen Oh When the Saints geweckt. So langsam habe ich Arthur das Lied noch nie singen gehört. Die Kutsche steht still.
    »Wir sind da«, sagt Anna.
    Luna stellt mir einen verrosteten Vogelkäfig auf die Knie.
    »Diese Brieftaube hat mir ein romantisch veranlagter Kunde vor Jahren geschenkt. Du musst uns unbedingt schreiben, wie es dir geht. Du brauchst nur einen Zettel ums linke Bein der Taube zu rollen, dann überbringt sie uns die Nachricht. So bleiben wir in Kontakt. Und keine Sorge: Sie wird dich überall finden, selbst in Andalusien, dem Land, in dem einem die Frauen unerschrocken in die Augen blicken! Viel Glück, pequeñito «, fügt sie hinzu und umarmt mich fest.

5
    Lieber Jack,
    dieser Brief ist schwer, so bleischwer, dass ich mich schon jetzt frage, wie die Taube – wenn sie endlich deinen ersten Brief bringt – es schaffen soll, mit diesen Neuigkeiten zu dir zurückzufliegen.
    Als Anna, Luna und ich nach unserer Rückkehr den Berg hochgingen, stand die Tür zum Haus offen, aber es war niemand mehr da. Selbst die Katze war verschwunden. Madeleines Kisten waren durchwühlt, und die Werkstatt sah aus, als wäre ein Wirbelsturm hindurchgefegt.
    Wir machten uns natürlich sofort auf die Suche nach Madeleine. Schließlich fanden wir sie im Gefängnis von St. Calford. Wir durften kurz zu ihr, und sie erzählte uns, dass die Polizei sie nur wenige Minuten nach deinem Aufbruch verhaftet hat. Sie sagte, wir sollten uns um sie keine Sorgen machen, sie sitze nicht zum ersten Mal im Knast, und alles werde gut.
    Ich wünschte, ich könnte dir schreiben, dass alles gut wurde und sie wieder auf freiem Fuß ist. Ich wünschte, ich könnte dir berichten, dass sie mit der einen Hand in einem Topf rührt, während sie mit der anderen ein kaputtes Herz repariert. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass es ihr gut geht, auch wenn sie dich schrecklich vermisst. Aber Madeleine ist gestern Abend von uns gegangen. Sie hat eine Reise angetreten, von der sie nicht zurückkehren wird. Ihren Körper hat sie im Gefängnis zurückgelassen, aber ihr Herz ist in die Freiheit entschwunden. Wenn du jetzt um sie trauerst, vergiss niemals, dass du sie glücklich gemacht hast, weil sie dir eine Mutter sein durfte. Das war ihr größter Traum.
    Der Gedanke, dass du Madeleine noch unter den Lebenden wähnst, ist uns unerträglich. Ich werde diesen Brief nicht noch einmal durchlesen, sonst verlässt mich der Mut, ihn dir zu schicken.
    Anna, Luna und ich wünschen dir viel Kraft in dieser schweren Zeit.
    Wir senden dir all unsere Liebe.
    Arthur
    PS: Denk immer daran: Oh When the Saints!

    Setzt sich die Panikmechanik in Gang, beginnt mein Herz zu rattern, und ich werde zu einer rasenden Dampflok,