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Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Malzieu
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in Sicht. Jack the Ripper nimmt die Verfolgung auf und zertrümmert im Vorbeigehen alle Fensterscheiben mit einem großen Küchenmesser. Ein Schwarm schwarzer Vögel dringt ins Zugabteil ein und folgt meinem Verfolger, umhüllt ihn wie eine düstere Wolke. Obwohl ich renne und er nur geht, holt er schnell auf. Der nächste Wagen. Wieder niemand. Jacks Schritte werden immer lauter, immer mehr Vögel umflattern ihn, sie kommen jetzt aus seinem Mantel, aus seinen Augen, sie stürzen auf mich zu. Auf der Flucht vor ihnen springe ich über Sitze. Ich drehe mich um, Jacks Augen erleuchten den Zug, die Vögel und sein Schatten holen mich ein, am Ende des Gangs ist die Tür zur Lokomotive, die Tür zur Kabine des Zugführers ist meine letzte Hoffnung. Jack wird mich aufschlitzen! Ach, Madeleine! Ich höre nicht mal mehr die Schläge meiner Uhr, aber ich spüre sie als Stiche im Bauch. Jacks linke Hand legt sich mir auf die Schulter. Er wird mich niedermetzeln, er wird mich niedermetzeln, und ich werde sterben, ohne jemals mein Herz verschenkt zu haben!
    Da wird der Zug plötzlich langsamer, er fährt in einen Bahnhof ein.
    »Hab keine Angst, Kleiner, du wirst bald lernen, anderen Angst zu machen, um zu existieren!«, wiederholt Jack the Ripper ein letztes Mal und verbirgt das Küchenmesser unter seinem Mantel.
    Ich zittere vor Entsetzen. Jack setzt einen Fuß auf den Tritt, steigt aus dem Zug und verschwindet zwischen den Reisenden auf dem Bahnsteig.
    Ich sitze auf einer Bank in der Victoria Station und ringe um Fassung. Mein Herz tickt allmählich wieder etwas langsamer, aber meine Uhr glüht immer noch. Sich zu verlieben kann nicht schlimmer sein, als mit Jack the Ripper in einem Geisterzug zu fahren. Ich dachte wirklich, dass er mich töten würde. Wie könnte ein Singvögelchen von einem Mädchen meiner Uhr mehr Schaden zufügen als Jack the Ripper? Mit dem Blitzen ihrer Augen? Mit dem perfekten Schwung ihrer langen Wimpern? Mit der aufregenden Rundung ihrer Brüste? Unsinn! Liebe kann unmöglich gefährlicher sein als das, was ich im Zug erlebt habe.
    Ein Spatz lässt sich auf meinem Minutenzeiger nieder, und ich zucke zusammen. Der Idiot hat mir einen Riesenschreck eingejagt! Seine Federn streichen sanft über mein Zifferblatt. Ich werde warten, bis er wegfliegt, und dann England so schnell wie möglich verlassen.
    Das Schiff, das mich über den Ärmelkanal trägt, ist bei Weitem nicht so unheimlich wie der Zug nach London. Das Gruseligste an Bord sind ein paar alte Damen, deren Gesichter an Dörrobst erinnern. Trotzdem verflüchtigen sich die Schatten meiner Angst nur langsam. Ich ziehe mein Herz mit Madeleines Schlüssel auf und habe dabei das Gefühl, die Zeit zurückzudrehen. Oder mein Gedächtnis. Zum ersten Mal in meinem Leben schwelge ich in Erinnerungen. Ich bin zwar erst seit einem Tag von zu Hause fort, aber mir kommt es schon jetzt wie eine Ewigkeit vor.
    In Paris esse ich in einem Restaurant am Ufer der Seine zu Mittag. Es riecht nach Gemüsesuppe. Ich liebe diesen Geruch, obwohl ich den Geschmack hasse. Dralle Kellnerinnen lächeln mich an, als wäre ich ein Säugling. Charmante alte Männlein unterhalten sich halblaut. Ich lausche dem Klappern der Tassen und Teller. Die gemütliche Atmosphäre erinnert mich an Zuhause. Ich frage mich, wie es Madeleine auf ihrem Berg geht, und beschließe, ihr zu schreiben.
    Liebe Madeleine,
    mir geht es gut, ich bin in Paris. Ich hoffe, Joe und die Polizei lassen dich in Ruhe. Vergiss nicht, Blumen auf mein Grab zu legen, bis ich zurückkehre!
    Du fehlst mir, und das Haus auch.
    Ich sorge gut für meine Uhr. Ich werde deinen Rat befolgen und versuchen, einen Uhrmacher zu finden. Nach der ganzen Aufregung kann es bestimmt nicht schaden, meine Uhr neu einstellen zu lassen. Gib Arthur, Anna und Luna einen Kuss von mir.
    Little Jack
    Ich schreibe absichtlich nur ein paar Zeilen, damit die Brieftaube mit leichtem Gepäck reisen kann. Dann rolle ich ihr den Zettel ums Bein und werfe sie in den Pariser Himmel. Sie fliegt los, hat jedoch Schlagseite. Jemand hat ihr die Federn an Kopf und Hals rasiert. Wahrscheinlich wollte Luna ihr für die Balz ein extravagantes Federkleid verpassen. Die Taube sieht aus wie eine Klobürste mit Flügeln. Ich hoffe, dass Madeleine schnell antwortet. Vielleicht hätte ich besser die herkömmliche Post benutzt.
    Bevor ich weiterfahre, muss ich einen guten Uhrmacher finden. Seit meiner Abreise ächzt und stöhnt mein Herz schlimmer denn je. Für das

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