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Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Malzieu
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Sängerin zu bleiben.
    Ich bereite mein Herz darauf vor, ein Werkzeug des Schreckens zu werden. Oben auf dem Berg hatte ich die Angewohnheit, allen möglichen Krimskrams in der Uhr aufzubewahren: Steine, Zeitungspapier, Murmeln … Irgendwann begannen die Zahnräder zu knirschen, das Ticken geriet aus dem Takt, und der Kuckuck hörte sich an wie ein Miniaturbulldozer, der zwischen meinen Lungenflügeln hin- und herfährt. Madeleine hasste meine Sammelleidenschaft …
    Zweiundzwanzig Uhr dreißig. Es geht los. Ich klammere mich an die Rückwand des hintersten Waggons wie ein Indianer, der eine Postkutsche überfällt. Brigitte Heim beobachtet mich argwöhnisch. Zu meiner großen Überraschung sehe ich Miss Acacia seelenruhig in einem der Wagen sitzen. Das Lampenfieber wird schlimmer, mein Uhrwerk beginnt zu stolpern.
    Die Bahn fährt los, ich springe von Waggon zu Waggon – ich erobere den Wilden Westen der Liebe. Ich muss alles geben! Mein Leben aufs Spiel setzen! Ich werfe mich mit voller Wucht gegen die Wagen, mein Kuckuck hustet wie eine alte Popcornmaschine. Ich drücke den Passagieren meine eiskalten Zeiger in den Nacken, in Gedenken an Arthur schmettere ich Oh When the Saints . Ich ernte ein paar spitze Schreie. Wie willst du den Leuten Angst einjagen? Am liebsten würde ich aus meinem Körper schlüpfen und Sonnenstrahlen auf die Wände der Geisterbahn werfen, damit Miss Acacia mich sieht und die Wärme spürt und Sehnsucht nach meinen Armen bekommt. Stattdessen trete ich für das große Finale aus dem Schatten ins fahle Kerzenlicht und strecke die Brust übertrieben weit heraus. Ich reiße mein Hemd auf, damit jeder sieht, wie sich die Zahnräder bei jedem Herzschlag unter der Haut drehen. Ich ernte ein Ziegenmeckern von einer nicht mehr ganz jungen Frau, mageren Applaus und ein paar unterdrückte Lacher von drei anderen Zuschauern.
    Ich beobachte Miss Acacia und hoffe verzweifelt, dass ihr mein Auftritt gefallen hat.
    Sie lächelt verschmitzt, so als hätte sie eine Handvoll Bonbons stibitzt.
    »Ist die Vorstellung vorbei?«
    »…?«
    »Ich habe leider nicht viel gesehen, aber es hat sich sehr lustig angehört. Herzlichen Glückwunsch! Ich habe dich erst gar nicht erkannt … Bravo!«
    »Danke. Und, hast du die Brillen ausprobiert?«
    »Schon, aber sie sind alle krumm und schief …«
    »Ja, ich habe absichtlich nur solche ausgewählt, bei denen es nicht schlimm ist, wenn du sie kaputt machst!«
    »Glaubst du, ich trage nur deshalb keine Brille?«
    »Nein, nein …«
    Sie lacht leise, es klingt wie Perlen, die auf ein Xylophon prasseln.
    »Alle aussteigen!«, ruft die Chefin und plustert sich auf wie ein angeberischer Vogel Strauß.
    Die kleine Sängerin steht auf und winkt mir zum Abschied zu. Obwohl ich sie mit meinem Auftritt gern beeindruckt hätte, bin ich doch froh, dass sie mein Herz nicht gesehen hat. Zwar ist es mein größter Traum, in finsterer Nacht ihre Sonne zu sein, aber Brigitte die Schreckliche hat meine alten Dämonen zu neuem Leben erweckt. Manchmal wird auch der härteste Schildkrötenpanzer weich, vor allem, wenn man unter chronischer Schlaflosigkeit leidet.
    Miss Acacias Absätze bewegen sich klappernd auf den Ausgang zu. Ich lausche dem süßen Geräusch, bis meine kleine Sängerin mit voller Wucht gegen die Tür läuft. Alle lachen, niemand hilft ihr. Miss Acacia torkelt hinaus in die Nacht wie eine Betrunkene im Abendkleid.
    Währenddessen hat Brigitte Heim mit der Manöverkritik meines Auftritts begonnen. Ihr Sermon geht mir zu einem Ohr rein und zum anderen wieder raus. Das Einzige, was hängen bleibt, ist das Wort »bezahlen«, das mehrmals vorkommt.
    Ich renne zu Méliès, um ihm alles haarklein zu erzählen. Als ich auf dem Weg die Hände in die Hosentaschen schiebe, finde ich einen zusammengeknüllten Zettel.
    Ich brauche keine Brille, um deinen Auftritt großartig zu finden. Sicherlich stehen die Mädchen schon Schlange, um sich mit dir zu verabreden, und die Liste deiner Rendezvous ist endlos. Glaubst du, du findest die Zeile, in der mein Name steht?
    Ich lese Méliès den Zettel zwischen zwei Kartentricks vor.
    »Hm, hm, verstehe … Deine Miss Acacia ist anders als andere Sängerinnen. Sie dreht sich nicht nur um sich selbst. Offenbar weiß sie nicht, wie verführerisch sie auf andere wirkt – was natürlich einen Teil ihres Charmes ausmacht. Dein Auftritt hat ihr also gefallen … Jetzt musst du alles auf eine Karte setzen. Vergiss nicht, dass sie sich nicht für

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