Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
als beiße sie auf ein Messer. Sie trägt große, traurige Schuhe – Nonnensandalen –, die wie dafür geschaffen sind, auf Träumen herumzutrampeln.
»Du Zwerg willst also in der Geisterbahn arbeiten?«
Ihre Stimme erinnert an das Knurren eines schlecht gelaunten Vogel Strauß. Sie besitzt die seltene Gabe, einen durch ihre bloße Anwesenheit in Angst und Schrecken zu versetzen.
»Und wie willst du die Leute erschrecken?«
Jack the Rippers Worte schießen mir durch den Kopf: »Du wirst schon bald lernen, anderen Angst zu machen, um zu existieren.«
Ich knöpfe mein Hemd auf, stecke den Schlüssel ins Schlüsselloch und drehe ihn herum. Der Kuckuck schnellt heraus und lässt seinen Ruf ertönen. Die Chefin mustert mich mit der gleichen Herablassung wie der Juwelier in Paris.
»Na ja, ich bezweifle, dass du damit großen Eindruck machen wirst, aber bedauerlicherweise hat sich sonst niemand beworben. Also werden wir es mit dir und deinem komischen Kuckuck versuchen.«
Ich schlucke meinen Stolz hinunter, denn ich bin auf die Arbeit angewiesen.
Als Nächstes führt mich Brigitte Heim voll Besitzerstolz durch die Geisterbahn.
»Ich habe eine Abmachung mit dem Friedhof: Sie liefern mir die Schädel und Knochen der Toten, deren Angehörigen sich die Grabgebühren nicht mehr leisten können. Keine schlechten Requisiten für eine Geisterbahn, findest du nicht? Außerdem, wenn ich sie nicht nehmen würde, würden sie bloß auf dem Müll landen! Hi, hi, hi!«, keckert sie hocherfreut.
Totenschädel und Spinnweben sind kunstvoll arrangiert: Sie schirmen das Flackern der geschickt angeordneten Kerzen so ab, dass die Geisterbahn in gruseliges Schummerlicht getaucht ist. Weit und breit ist kein einziges Staubkorn zu sehen, es herrscht penible Sauberkeit. Ich frage mich, welche intergalaktische Leere diese Frau in sich spüren muss, wenn sie so viel Zeit darauf verwendet, in diesem düsteren Labyrinth zu putzen.
Ich drehe mich zu ihr um.
»Haben Sie Kinder?«
»Was für eine Frage! Nein! Ich habe einen Hund und bin damit sehr zufrieden.«
Falls ich alt werde und Kinder haben sollte, vielleicht sogar Enkelkinder, baue ich uns ein Haus, in dem alle nach Lust und Laune herumlaufen und lachen und Fangen spielen können. Und selbst wenn ich nicht das Glück haben sollte, Vater zu werden, will ich auf keinen Fall allein in einem düsteren, leeren Haus wohnen. Nein danke!
»Ich verbiete dir, irgendwas zu berühren. Wenn du auf einen Totenschädel trittst und ihn zerbrichst, musst du ihn bezahlen!«
»Bezahlen« ist offensichtlich ihr Lieblingswort.
Brigitte Heim will wissen, was mich nach Granada verschlagen hat. Ich erzähle ihr eine Kurzfassung meiner Geschichte, vielmehr versuche ich es, denn sie unterbricht mich ständig. Am Ende fällt sie ihr vernichtendes Urteil: »Das ist ausgemachter Unsinn. Glaubst du etwa, deine Kuckucksuhr kann Wunder wirken? Damit wirst du noch gehörig auf die Schnauze fallen, das sag ich dir. Die Leute mögen es nicht, wenn man anders ist. Sie genießen das Spektakel und den wohlig-grausigen Schauer, aber das ist reiner Voyeurismus. Ob sie nun bei einem schweren Unfall stehen bleiben oder eine Frau mit zwei Köpfen begaffen, ist dasselbe. Viele Männer applaudieren der zweiköpfigen Frau, aber niemand verliebt sich in sie. Bei dir wird das nicht anders sein. Die Leute mögen sich am Anblick deines zusammengeflickten Herzens ergötzen, aber sie werden dich niemals lieben. Glaubst du wirklich, ein hübsches junges Mädchen gibt sich mit einem Jungen ab, der eine Prothese im Herzen hat? Sogar ich finde das abstoßend … Aber was kümmert’s mich? Solange es dir gelingt, meine Kunden zu erschrecken, soll es mir egal sein!«
Die schreckliche Brigitte reiht sich nahtlos in die Riege der gnadenlosen Spötter ein. Aber sie weiß nicht, wie hart der Panzer aus Träumen ist, den ich mir von klein auf zugelegt habe. Ich bin die widerstandsfähigste Schildkröte der Welt! Ich werde den Mond verschlingen wie einen phosphoreszierenden Pfannkuchen und dabei an Miss Acacia denken. Du kannst mich mit deinem hämischen Zombie-Grinsen verfolgen, so viel du willst, du kannst mir nichts anhaben!
Zweiundzwanzig Uhr. Ich trete meine erste Schicht an. Ich muss jetzt ganz schnell lernen, wie man Leute erschreckt. In einer halben Stunde habe ich meinen Auftritt, und das Lampenfieber steigt. Ich darf es auf keinen Fall vermasseln. Die Arbeit ist meine einzige Chance, ganz offiziell in der Nähe der kleinen
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