Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
Arm nehmen …« Schweigen, wieder dieses unergründliche Schmollmundpuppengesicht, diesmal mit geschlossenen Augen. »Wir können gerne später weiterreden, aber sollen wir uns nicht erst mal umarmen?«
Miss Acacia haucht ein winziges »Ja«, das es kaum über ihre Lippen schafft. Eine tiefe Stille legt sich über uns. Sie stakst in Zeitlupe auf mich zu. Aus der Nähe betrachtet ist sie eindeutig hübscher als ihr Schatten – allerdings auch furchteinflößender. Ich bete zu einem unbekannten Gott, dass mein Kuckuck nicht zu krähen beginnt.
In Sachen Körperkontakt leisten unsere Arme hervorragende Arbeit. Aber meine Uhr ist mir im Weg. Ich traue mich nicht, meine Brust an ihre zu schmiegen. Ich will ihr auf keinen Fall mit meiner Herzprothese Angst einjagen. Aber wie soll ein Mädchen nicht erschrecken, wenn einem spitze Uhrzeiger aus der Brust ragen? Die Panikmechanik setzt sich in Gang.
Ich wende meine linke Seite ab, als wäre mein Herz aus Glas. Meine Ausweichmanöver verkomplizieren unseren Tanz, vor allem, weil sie im Gegensatz zu mir Tangoweltmeisterin zu sein scheint. Das Ticken meiner Uhr wird von Sekunde zu Sekunde lauter. Madeleines warnende Worte schießen mir wie Blitze durch den Kopf. Was, wenn ich sterbe, bevor ich Miss Acacia küssen kann? Sprung ins Nichts, Rausch des Fluges, Angst vor dem Aufprall.
Ihre Finger stehlen sich in meinen Nacken, meine verirren sich unter ihre Schulterblätter. Ich versuche, Traum und Wirklichkeit zusammenzuschweißen, aber ich trage keine Schutzbrille. Unsere Münder schleichen aufeinander zu. Die Zeit verstreicht unendlich langsam. Unsere Lippen übernehmen die Kontrolle, es gibt nichts Weicheres auf der Welt. Sie verschmelzen zu einem langen Kuss. Miss Acacias Zunge fühlt sich an wie ein Vogelküken, das auf meiner Zunge aus dem Ei schlüpft. Sie schmeckt nach Erdbeeren.
Miss Acacias riesige Augen verschwinden hinter den Sonnenschirmen ihrer Lider, und ich fühle mich wie ein Gewichtheber, der Gebirge stemmt, mit der Linken den Himalaja, mit der Rechten die Rocky Mountains. Im Vergleich zu mir ist Atlas ein Schwächling. Ein gigantisches Glücksgefühl durchströmt mich. Bei jeder unserer Bewegungen lässt die Geisterbahn ihre Gespenster raunen. Das leise Kratzen von Miss Acacias Absätzen auf dem Holzboden hüllt uns ein.
»Ruhe!«, kreischt eine schrille Stimme.
Wir fahren zusammen. Wir haben das Monster von Loch Ness geweckt. Atemstillstand.
»Bist du das, Zwerg? Was hast du um diese Uhrzeit in der Geisterbahn zu suchen?«
»Ich versuche mir etwas einfallen zu lassen, wie ich die Leute noch besser erschrecken kann.«
»Geht das nicht auch leiser! Und Finger weg von den neuen Totenschädeln!«
»Ja, ja …«
Vor Schreck hat sich Miss Acacia noch enger an mich geschmiegt. Die Zeit scheint stillzustehen, von mir aus braucht sie nie mehr weiterzulaufen. Darüber vergesse ich ganz, mein Herz auf Abstand zu halten. Miss Acacia runzelt die Stirn und legt ein Ohr an meine Brust.
»Was hast du da unter dem Hemd? Das pikst ja!«
Ich antworte nicht, aber mir bricht der Angstschweiß des entlarvten Betrügers aus. Ich spiele mit dem Gedanken, sie anzulügen, ihr etwas vorzumachen, mir eine Geschichte aus den Fingern zu saugen, aber in ihrer Frage liegt so viel aufrichtiges Interesse, dass ich es nicht übers Herz bringe. Langsam knöpfe ich mein Hemd auf. Die Uhr kommt zum Vorschein, das Ticken wird lauter. Ich stehe mit gesenktem Kopf da und warte auf ihr Urteil. Miss Acacia streckt die linke Hand aus und flüstert: »Was ist das denn?«
Ihre Stimme ist so voller Mitgefühl, dass man bis ans Ende seiner Tage bettlägerig sein und sie als Krankenschwester haben will. Mein Kuckuck beginnt zu tirilieren. Miss Acacia zuckt zusammen. Ich drehe den Schlüssel im Schloss und murmele: »Tut mir leid. Das ist mein Geheimnis. Ich wollte es dir schon eher sagen, aber ich hatte Angst, dich zu verschrecken.«
Die Uhr diene mir seit der Geburt als Herz, erkläre ich, verschweige aber geflissentlich, dass ich weder Liebe noch Wut empfinden darf, weil starke Gefühle das Uhrwerk zum Explodieren bringen könnten. Miss Acacia fragt, ob sich bei einer Zeitumstellung auch meine Gefühle ändern oder ob es sich dabei um einen rein mechanischen Vorgang handelt. Sie wirkt belustigt und scheint das alles nicht besonders ernst zu nehmen. Ich antworte, der Mechanismus funktioniere nicht ohne Gefühle, wage mich aber nicht weiter auf dieses gefährliche Gebiet vor.
Sie lächelt,
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