Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
sind. Na ja, unsere Kleider haben schon lange kein Bügeleisen mehr aus der Nähe gesehen.
Plötzlich gehen die Lichter aus. Eine blecherne Musik ertönt, hinter dem Vorhang huscht ein Schatten vorbei. Ein vertrauter Schatten …
Und endlich: Die kleine Sängerin betritt die Bühne und stampft mit ihren gelben Stöckelschuhen im Takt auf dem Boden. Auf ihren hohen Absätzen balancierend, tanzt sie ihren Vogeltanz. Ihre Nachtigallenstimme klingt noch bezaubernder als in meinen Träumen. Am liebsten würde ich sie fürs Erste nur ansehen, um mein Herz an ihren Anblick zu gewöhnen.
Miss Acacia streckt die Brust raus und öffnet leicht die Lippen, als wolle sie ein Gespenst küssen. Dann schließt sie die riesigen Augen, hebt die Hände wie Kastagnetten über den Kopf und beginnt zu klatschen.
Während das Publikum andächtig einem besonders herzzerreißenden Lied der kleinen Sängerin lauscht, ertönt in meiner Brust plötzlich ein heiseres »Kuckuck«. Ich schäme mich furchtbar. Allein Méliès’ lachende Augen halten mich davon ab, in Panik zu geraten.
Der heilige Ernst, mit dem meine kleine Sängerin ihre Lieder vorträgt, wirkt an einem so schäbigen Ort fast schon grotesk. Als entzünde sie in einem Spielzeugstadion aus Plastik ein olympisches Feuer.
Nach ihrem Auftritt wird Miss Acacia von Bewunderern und Autogrammjägern umringt. Ich muss mich hinten anstellen, um zu ihr zu gelangen, dabei will ich gar kein Autogramm, sondern nur mit ihr zum Mond. Wir beide aneinandergeschmiegt auf der Sichel … Méliès raunt mir zu:
»Schau, ihre Garderobentür steht offen! Und es ist niemand drin!«
Wie ein Dieb stehle ich mich hinein.
Ich ziehe die Tür hinter mir zu und sehe mir in aller Ruhe ihre Schminksachen, ihre Schuhsammlung und ihren Kleiderschrank an – die Fee Tinkerbell wäre entzückt. Es ist mir angenehm unangenehm, ihrer Weiblichkeit so nah zu sein. Der Duft ihres Parfüms berauscht mich. Schließlich setze ich mich auf die Sofakante und warte.
Kurz darauf springt die Tür auf, und die kleine Sängerin fegt herein wie ein Wirbelsturm. Ihre gelben Stöckelschuhe fliegen in eine Ecke, es regnet Haarklammern, und schon sitzt sie an der Frisierkommode. Ich rühre mich nicht. Ein Toter hätte mehr Lärm gemacht.
Sie beginnt sich abzuschminken wie eine rosa Schlange, die sich häutet. Dann setzt sie ihre Brille auf.
»Wer bist du? Was hast du hier zu suchen?«, fragt sie, als sie mich im Spiegel sieht.
›Entschuldige die Störung. Seit ich dich vor ein paar Jahren singen gehört habe, träume ich davon, dich wiederzusehen. Ich bin quer durch Europa gereist, um dich zu finden, man hat mir ein Ei auf dem Kopf zertrümmert, und fast wäre ich von einem Mörder, der nur Tote liebt, aufgeschlitzt worden. Zwar bin ich ein Liebeskrüppel, denn offenbar hält mein zusammengeflicktes Herz dem emotionalen Erdbeben, das mich bei deinem Anblick erschüttert, auf Dauer nicht stand, aber ich kann es nicht ändern: Mein Herz schlägt nur für dich.‹ Das sind die Worte, die mir auf der Zunge brennen, aber ich bleibe stumm.
»Wie bist du hier reingekommen?«
Sie ist wütend, aber der Überraschungseffekt nimmt ihr den Wind aus den Segeln. Verstohlen setzt sie die Brille wieder ab, und ich meine, in ihren Augen eine Spur Neugier zu sehen.
Méliès hatte mich vorgewarnt: »Pass auf, sie ist Sängerin, und sie ist hübsch. Du bist bestimmt nicht der Erste, der auf die Idee kommt, sie … Die hohe Kunst der Verführung besteht darin, dir nicht anmerken zu lassen, dass du sie verführen willst.«
»Die Tür war wohl nicht richtig zu, und als ich mich aus Versehen kurz dagegen gelehnt habe, bin ich hier reingestolpert und versehentlich auf deinem Sofa gelandet.«
»Kommt es öfter vor, dass du versehentlich in die Garderobe eines Mädchens stolperst, das sich gerade umziehen will?«
»Nein, nein, im Gegenteil!«
Jedes Wort, das ich ausspreche, scheint von immenser Bedeutung zu sein. Nur mit Mühe gelingt es mir, die einzelnen Silben zu formen. Das Gewicht meines Traums drückt mich nieder.
»Und wo landest du sonst so? Direkt im Bett? Unter der Dusche?«
»Normalerweise lande ich überhaupt nicht.«
Ich versuche, mir Méliès’ Liebesmagie-Lektionen in Erinnerung zu rufen. Er sagte einmal: »Gib dich, so wie du bist, bring sie zum Lachen oder zum Weinen, freunde dich mit ihr an. Zeig, dass du dich für sie als Person interessierst, nicht nur für ihren Hintern. Das sollte dir nicht schwerfallen, schließlich
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