0966 - Die Angst der Psychonautin
Der nächste Tropfen erwischte sie. Diesmal spürte sie ihn nicht auf der Schulter, sondern auf dem linken Handrücken.
Die Putzfrau schimpfte. Dabei dachte sie daran, daß sie hier oben eigentlich nichts zu suchen hatte, aber ihr gefiel der Speicher, denn er eignete sich gut als Aufbewahrungsort für ihre Besen, die Lappen und auch die Putzmittel. Hier oben wurden sie ihr auch nicht gestohlen.
Außerdem konnte sich Hilde hier oben hin und wieder ausruhen.
Wenn es nicht regnete, was hatte sie dann erwischt?
Die Frau wollte nicht so recht darüber nachdenken, weil sie spürte, daß sie möglicherweise zu einem Ergebnis kam, das ihr nicht gefallen konnte. In ihr breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Zugleich schärfte es ihre Sinne.
Hilde schaute sich um.
Sie kannte jeden Winkel des Speichers, der ebenso alt war wie das gesamte Haus. Gefürchtete hatte sie sich nie vor diesem Raum, aber heute war es anders. Plötzlich sah sie ihn mit anderen Augen an. Die kleinen Fensterluken, die noch durch einen Hebel aufgestoßen werden mußten, erinnerten sie an böse Augen. Die dicken Balken über ihr und dicht unterhalb des Dachs bildeten ein graues Geflecht, in dem sich etwas Böses verstecken konnte, wenn es denn wollte.
Hilde legte den Kopf zurück und schaute nach oben. Viel Licht gab es dort nicht. Da mußten sich ihre Augen schon an die Düsternis gewöhnen, die von silbrigen Fäden durchzogen wurde, denn da oben putzte sie nie. Es war die Welt der Spinnen, dieser Räuber, die auf Jagd nach anderen Insekten gingen.
Hatte sie von dort oben auch die beiden Tropfen erwischt?
Genau konnte sie das nicht sagen, und sie wollte auf ihre Handrücken schauen, als der dritte Tropfen fiel.
Der klatschte genau auf ihre Stirn.
Obwohl Hilde Cania eigentlich damit hätte rechnen müssen, zuckte sie doch zusammen und hatte sogar Mühe, einen leisen Schrei zu unterdrücken. Zugleich wußte sie, daß kein Wasser sie erwischt hatte.
Wasser war anders, nicht so dickflüssig. Hilde war sich ziemlich sicher, daß da Öl tropfte.
Der Tropfen war auf der Stirn verlaufen. Nun rann die warme Flüssigkeit sogar über ihre Nasenwurzel!
Hilde hätte jetzt ein Taschentuch hervorholen und den Tropfen wegwischen können. Das tat sie nicht. Sie wischte ihn mit der Hand weg, weil sie genau wissen wollte, um was es sich dabei handelte. Gerade noch rechtzeitig, bevor er ihren Mund erwischen konnte.
Dann blickte sie auf ihre Finger.
Die Flüssigkeit war zwar dunkel wie Öl, aber war es das wirklich? Hilde mußte es genau wissen. Beweise waren für sie wichtig, und so holte sie mit der anderen Hand ein Feuerzeug aus ihrer rechten Kitteltasche und zündete es an. Im tanzenden Licht der Flamme sah sie sofort, was sie da von ihrer Nase gewischt hatte.
Es war kein Öl, sondern Blut!
***
Hilde Cania stockte. So wie sie sich jetzt fühlte, mußte sich auch jemand vorkommen, der in einen Eispanzer gesteckt worden war. Sie traute sich nicht mal zu denken. Die Frau stand auf dem Fleck und starrte auf ihre mit Blut verschmierten Finger.
Ekel überkam sie. Die Starre wich und Hilde schüttelte sich. Dann würgte sie, trat schnell zur Seite und mußte sich übergeben. Gleichzeitig brach ihr der Schweiß aus.
Das ließ sie wieder an das Blut denken. Erneut schüttelte sich die Frau.
Sie schluckte ihren eigenen Speichel, bevor sie dorthin ging, wo sich eine Luke in dem schrägen Dach befand. Da war es wenigstens heller.
Hilde hob den ausgestreckten Finger ins Licht. Sie betrachtete die Flecken. Das Blut war nicht hell, sondern schon ziemlich dunkel geworden. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß sie die drei Tropfen von oben erwischt hatten. Sie mußten aus dem Gebälk gefallen sein. Also war dort etwas verborgen, das ihr bereits jetzt den nächsten Schauer über den Rücken jagte.
Die Reinemachefrau wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. Hingehen und nachschauen?
Es gab Licht hier oben. Sie brauchte es nur einzuschalten.
Aber wollte sie das auch? Wollte sie wirklich erkennen, was dort oben lag? Sie schielte zur Seite und sah die Aluleiter dicht an der Tür des Speichers stehen.
Hilde Cania war eine kräftige Frau. Sie hatte immer viel arbeiten müssen, und auch jetzt gehörte sie nicht zu denen, die wegliefen, wenn eine Arbeit erledigt werden mußte.
Noch einmal schaute sie hoch.
Aber es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Deshalb stellte sie sich unter die Glühbirne, streckte den Arm aus und drehte daran.
Ihre Hand zuckte zurück, als die
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