Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
unerträglich. Es fühlt sich an, als schlage sie den Nagel in meinen Schädel. Dann hängt sie die Schiefertafel über meinem Bett auf. Darauf steht unheilverkündend:
Erstens: Rühr deine Zeiger nicht an!
Zweitens: Zügle deinen Zorn!
Drittens: Verschenke niemals dein Herz – an niemanden!
Denn sonst wird der Stundenzeiger deiner Uhr sich dir durch die Haut bohren, deine Knochen werden bersten, und die Mechanik deines Herzens wird für immer stillstehen.
Die Schiefertafel versetzt mich in Angst und Schrecken. Ich lese die Worte nur ein einziges Mal und kenne sie auswendig. Sie kriechen zwischen meine Zahnräder wie heimtückische Sandkörner.
Mein Uhrwerk mag zwar fragil sein, aber die kleine Sängerin hat sich häuslich darin eingerichtet. Sie hat in allen Ecken ihre tonnenschweren Koffer abgestellt, und doch fühle ich mich seit unserer Begegnung so leicht wie nie zuvor.
Ich muss sie unbedingt wiedersehen. Wie mag sie heißen? Wo kann ich sie finden? Ich weiß nur, dass sie schlechte Augen hat und singt wie ein Vögelchen, nur mit Worten.
Immer wenn wir Besuch von Möchtegerneltern haben, versuche ich, sie unauffällig auszufragen. Doch niemand antwortet mir.
Also versuche ich mein Glück bei Arthur.
»Ja, ich habe sie vor einiger Zeit in der Stadt singen hören, aber jetzt hab ich sie schon länger nicht mehr gesehen.«
Vielleicht sind Anna und Luna auskunftsfreudiger – zwei Huren, die jedes Jahr spätestens um Weihnachten herum bei uns auftauchen, den Blick auf ihre runden Bäuche gesenkt. Als Luna »Nein, nein, wir wissen nichts, überhaupt nichts … Oder, Anna? Wir wissen rein gar nichts!« antwortet, weiß ich, dass ich auf der richtigen Spur bin.
Anna und Luna sehen in ihren hautengen Leopardenanzügen aus wie vorzeitig gealterte Mädchen. Sie riechen immer nach mysteriösen Kräutern, auch wenn sie gerade keine Zigarette zwischen den Fingern halten. Die Schwaden ihrer Selbstgedrehten scheinen ihre Gehirne zu kitzeln, denn wenn sie rauchen, beginnen Anna und Luna jedes Mal zu kichern. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist es, mir neue Wörter beizubringen. Sie verraten mir zwar nie, was die Wörter bedeuten, üben aber so lange mit mir, bis ich sie fehlerfrei aussprechen kann. Von allen Wörtern, die sie mir beibringen, mag ich »Cunnilingus« am liebsten. In meiner Vorstellung ist Cunnilingus ein Held der römischen Antike. Man muss es sich nur einmal auf der Zunge zergehen lassen: Cun-ni-lin-gus, Cunnilingus, Cunnilingus. Was für ein wunderbares Wort!
Anna und Luna kommen nie mit leeren Händen. Sie bringen uns immer einen großen Strauß Blumen mit, die sie vom Friedhof klauen, oder den Mantel eines Kunden, der beim Orgasmus einem Herzinfarkt erlitten hat. Zu meinem Geburtstag schenken sie mir dieses Jahr einen Hamster, den ich »Cunnilingus« taufe, was die beiden sehr rührt.
»Cunnilingus, mein Schätzchen!«, flötet Anna und schnippt mit ihren lackierten Fingernägeln gegen die Käfigstäbe.
Anna ist eine langstielige Rose mit verwelkten Blättern und einem Regenbogen im Auge. Eines Tages hat ihr ein zahlungsunwilliger Kunde das linke Auge ausgestochen, und Madeleine hat es durch einen Bergkristall ersetzt, der je nach Wetterlage in den verschiedensten Farben schillert. Anna redet sehr schnell, als fürchte sie sich vor der Stille zwischen den Wörtern. Als ich sie nach der kleinen Sängerin frage, behauptet sie, noch nie etwas von ihr gehört zu haben, und spricht dabei noch schneller als sonst. Ich spüre, dass sie darauf brennt, mir ein Geheimnis anzuvertrauen. Also nutze ich die Gunst der Stunde und stelle ihr erst einmal ein paar grundsätzliche Fragen über die Liebe – im Flüsterton, denn ich lege keinen gesteigerten Wert darauf, dass Madeleine uns hört und sich einmischt.
»Weißt du, ich bin schon lange im Liebesgeschäft. In all den Jahren habe ich selbst zwar nicht viel Liebe abbekommen, aber Liebe zu geben, macht mich glücklich. Manchmal jedenfalls. Ich bin kein abgebrühter Profi. Sobald ein Kunde mich häufiger besucht, verliebe ich mich und nehme kein Geld mehr. Für eine Weile kommt er dann jeden Tag und bringt mir Geschenke. Aber irgendwann hat er mich leid. Ich weiß, dass ich mich nicht in Kunden vergucken sollte, aber es passiert mir immer wieder. Jedes Mal gibt es da diesen absurden und gleichzeitig wunderschönen Moment, in dem ich an das Unmögliche glaube.«
»An das Unmögliche?«
»In meinen Beruf hat man es nicht leicht, wenn man ständig sein Herz
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