Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
sie verliebt.«
Die Umstehenden raunen »ooohhh«. Ein pechschwarzer Funken glimmt in Joes Augen auf und erhellt für den Bruchteil einer Sekunde eine abgrundtiefe Wut, die ihn noch furchterregender wirken lässt. Mit einem einzigen Blick bringt er den gesamten Hof zum Schweigen. Selbst der Wind scheint ihm zu gehorchen.
»Die ›kleine Sängerin‹, wie du sie nennst, ist die Liebe meines Lebens und … sie ist fort. Sprich nie wieder von ihr! Wenn ich dich auch nur bei einem Gedanken an sie erwische, reiße ich dir das Ding, das du in deiner Brust hast, heraus und zertrümmere es auf deinem Schädel. Ich schlage deine dämliche Uhr in Stücke, hörst du? In tausend Stücke, damit du NIE WIEDER lieben kannst!«
Seine langen Finger zittern vor Wut, und das, obwohl er die Fäuste geballt hat.
Noch vor wenigen Stunden träumte ich, mein Herz sei ein stolzes Schiff, mit dem ich über das Meer der Widrigkeiten hinwegsegeln könne. Ich hatte das Gefühl, nichts könne mich aufhalten. Was meinem Herzen an Kraft fehlt, so dachte ich, würde der Wille, die kleine Sängerin wiederzusehen, schon wettmachen. Doch jetzt hat Joe meine Uhr in nur fünf Minuten wieder auf Echtzeit gestellt und meine prachtvolle Galeere in ein morsches Ruderboot verwandelt.
» NIE WIEDER !«, ruft Joe abermals.
»Kuckuck!«, antwortet meine mickrige Nussschale.
Der Ruf klingt dumpf, als hätte mir jemand die Faust in den Magen gerammt.
Als ich mich später auf den Heimweg mache, frage ich mich, wie eine so hinreißende Nachtigall mit Brille einem so widerlichen Geier wie Joe in die Krallen geraten konnte. Ich klammere mich an den Gedanken, dass meine kleine Sängerin in der Schule vielleicht ihre Brille nicht aufhatte. Ach, wo mag sie nur sein?
Plötzlich reißt mich eine dürre Frau mit Elefantenhintern aus meinen Grübeleien. Sie hat Joe fest an der Hand gepackt – vielleicht ist es aber auch andersherum, wenn man bedenkt, wie groß der Geier ist. Die Frau ist um die vierzig, aber schon ziemlich verwelkt, eine groteske Version ihres Sohns.
»So so, du bist also der Junge, der bei der alten Hexe oben auf dem Berg lebt. Dann stammst du wohl auch aus dem Bauch einer Hure. Jeder weiß, dass die Alte schon lange unfruchtbar ist.«
Sobald sich die Erwachsenen einmischen, kennt die Gemeinheit keine Grenzen mehr.
Trotz meines hartnäckigen Schweigens beleidigen mich Joe und seine Mutter auf dem Weg nach oben weiter. Sie lassen nicht locker. Endlich erreiche ich den Gipfel und verschwinde in unserem Holzhaus. Verdammte Uhr voller Träume! Am liebsten würde ich dich in den Vulkankrater des Arthur’s Seat werfen.
Am Abend kann Madeleine mir noch so viele Schlaflieder vorsingen, es hilft alles nichts. Als ich mich dazu durchringe, ihr von Joe zu erzählen, erklärt sie mir, dass er mich vielleicht nur deshalb so runtermache, um in den Augen der anderen besser dazustehen. Er sei bestimmt nicht durch und durch böse. Wahrscheinlich sei er einfach nur unsterblich verliebt in die kleine Sängerin. Liebeskummer mache Menschen nun mal zu Monstern der Melancholie. Ihre Nachsicht für Joe ärgert mich. Sie gibt mir einen Kuss auf das Zifferblatt und verlangsamt meinen Herzschlag, indem sie mit dem Zeigefinger sanft über meine Zahnräder streicht. Ich schließe die Augen, ohne zu lächeln.
4
in Jahr vergeht. Als würden ihn meine Zeiger magnetisch anziehen, weicht mir Joe nicht von der Seite. Jeden Tag verpasst er mir vor den Augen unserer Mitschüler gezielte Schläge auf die Uhr. Am liebsten würde ich ihm jedes rabenschwarze Haar einzeln ausreißen, aber ich lasse seine Hänseleien klaglos über mich ergehen. Meine Recherchen in Sachen kleine Sängerin bleiben ergebnislos. Niemand traut sich, mit mir zu reden, denn in der Schule ist Joe das Gesetz.
In der Pause ziehe ich Arthurs Ei aus dem Ärmel meines Pullovers. Ich versuche, Miss Acacia wiederzufinden, indem ich ganz fest an sie denke. Darüber vergesse ich Joe, vergesse sogar, dass ich in der verdammten Schule bin. Während ich das Ei streichle, wird auf der Leinwand meiner geschlossenen Augen ein wunderschöner Traum gezeigt. Die Schale bekommt Risse, und die kleine Sängerin schlüpft aus dem Ei, ihr Körper ist von Kopf bis Fuß mit roten Federn bedeckt. Ich halte sie vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und habe Angst, sie zu zerquetschen, fürchte ich aber auch, sie könnte davonfliegen. Zwischen meinen Fingern lodert eine flauschige Feuersbrunst, die kleine Sängerin sucht meinen
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