Die Medica von Bologna / Roman
Ich wollte Doktor Sangio sprechen, noch in dieser Stunde, am besten sofort. »Höre, Daniele …«
Ich stutzte. Vor mir stand nicht der Diener, sondern ein stattlicher Mann in den Fünfzigern, jeder Zoll ein Herr. Er war von fester Statur, ohne Bauch, und in feines schwarzes Tuch gekleidet, genau wie Gaspare. Sein Kopf erinnerte an den eines römischen Imperators, nur dass in seinem Blick nichts Heldenmütiges lag, sondern eher ein Anflug von Trauer. »Ich bin Doktor Sangio«, sagte er. »Und Ihr seid sicher Signorina Carla. Willkommen in meinem Haus. Verzeiht, dass ich erst jetzt Zeit finde, Euch zu begrüßen.«
»Ihr hattet sicher triftige Gründe dafür«, sagte ich, um Höflichkeit bemüht.
»Die hatte ich.«
Ich wollte ihn fragen, welche das waren, doch irgendetwas hielt mich davon ab, und deshalb sagte ich nichts.
Er sah mich abschätzend an, wobei sein Blick für einen Moment auf meinem Schleier verweilte. »Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Nacht?«
»Vielen Dank, Dottore.«
Unser Gespräch drohte zu versickern, denn der Doktor schien plötzlich mit seinen Gedanken in weiter Ferne zu sein. Starr blickte er an mir vorbei, und ich sah, wie es in seinem Gesicht arbeitete. Dann aber sprach er mit seiner tiefen Stimme weiter: »Darf ich fragen, was Euch zu mir führt? Daniele sagte mir, Ihr hättet ein Empfehlungsschreiben von Doktor Tagliacozzi?«
»So ist es, Dottore.« Ich überreichte ihm Gaspares Schreiben, und er erbrach das Siegel. Gespannt beobachtete ich ihn, während er las, doch nichts in seinem Gesicht verriet mir seine Gedanken.
»Kennt Ihr den Inhalt des Briefs?«, fragte er mich.
»Nein, Dottore. Ich weiß nur, dass es um zwei zusätzliche Kräuter im alljährlichen Theriak geht.«
»Das ist richtig. Doktor Tagliacozzi schreibt hier, dass es einen zweiten Brief von Professor Aldrovandi gibt, in dem dieser mich um ein schriftliches Gutachten bittet?«
»Hier ist er, Dottore.«
»Danke.«
Doktor Sangio las auch den zweiten Brief, ohne eine Regung zu zeigen. »Aldrovandi bittet mich um eine schriftliche Stellungnahme zur Notwendigkeit,
amomum
und
costus
im Theriak zu verwenden. Nun, ich will sehen, was ich machen kann.«
»Grazie,
Dottore. Ich habe den Auftrag, Euer Gutachten persönlich nach Bologna zurückzubringen.«
»Ich weiß, auch das erwähnte Tagliacozzi in seinem Schreiben. Fühlt Euch wie zu Hause, Signorina, und habt etwas Geduld. Leider kann ich …« Er hielt inne. »Leider muss ich …« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Bitte, verzeiht, verzeiht mir …« Mit raschen Schritten verließ er das Zimmer.
Ich blickte ihm nach. Sein Verhalten wurde für mich immer rätselhafter.
»Signorina Carla, ich bringe das Frühstück.« Daniele blickte mit ernster Miene seinem enteilenden Herrn nach. »Ich freue mich, dass der Doktor so schnell Zeit für Euch gefunden hat. Nach der letzten Nacht war das nicht zu erwarten.«
»Was meinst du damit?«
Daniele verteilte die Morgenspeisen auf einem kleinen Tisch. »Wie Ihr seht, Signorina, habe ich für Euch ein Ei gekocht. Ein Glücksfall. In der Nachbarschaft laufen ein paar herrenlose Hühner herum, eines von ihnen konnte ich überreden, sein Ei in unsere Küche zu legen.«
»Danke, Daniele. Was meintest du mit deiner Bemerkung eben?«
Der Diener schaute auf. »Der Doktor hat schwere Stunden hinter sich, Signorina. Und, wenn die Bemerkung gestattet ist, ich auch.«
»Was ist passiert, Daniele? Ich möchte endlich wissen, was hinter deiner Geheimniskrämerei steckt.«
»Ich verstehe Euch, Signorina. Gut, warum soll ich es Euch nicht sagen, jetzt, wo Ihr den Doktor gesehen habt und sicher noch einige Tage in seinem Haus verweilen werdet. Die Frau des Doktors, Signora Ginevra, ist letzte Nacht an der Pest gestorben.«
Das war es also! Ich brauchte eine Weile, um die Tragweite von Danieles Worten zu ermessen. Des Doktors Frau war der Pest erlegen. Er hatte die ganze Zeit am Sterbebett seiner Gemahlin gesessen, sie gewiss getröstet, gepflegt, umsorgt, während ich ihn mir als kleinen, unhöflichen Bücherwurm vorgestellt hatte, dem seine Arbeit wichtiger war als seine Besucherin. Vor Scham wäre ich am liebsten im Boden versunken. »Das tut mir sehr, sehr leid«, brachte ich schließlich hervor.
»Nun wisst Ihr es, Signorina.«
»Ich glaube, ich habe keinen Appetit mehr.«
»Ich lasse Euch die Speise trotzdem da. Wenn es Euch recht ist, komme ich später wieder und räume ab. Der Doktor bat mich, nach einem
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