Die Medica von Bologna / Roman
scheinen in dieser höllischen Zeit überhaupt nicht mehr in Erfüllung zu gehen.« Wieder starrte er in die Truhe. »Das grüne Kleid dort hat meine Frau immer besonders geliebt. Ihr letzter Wunsch war, in ihm begraben zu werden.«
»Das wird sich gewiss einrichten lassen, Dottore.«
»Oh, nein.« Er lächelte schmerzlich. »Meine Frau trug das Kleid als junges Mädchen. Es dürfte heute kaum mehr passen. So wird ihr Schlafgewand wohl auch ihr Totenhemd sein.«
Bevor ich antworten konnte, rief Daniele vom Hauseingang her: »Dottore, ich habe einen Priester mitgebracht, sein Name ist Pater Ernesto!«
Der Doktor trat ans Fenster und rief zurück: »Vielen Dank, Pater, dass Ihr Zeit für mich gefunden habt. Bitte wartet, ich komme sofort.« Dann wandte er sich mir wieder zu: »Wenn Ihr wollt, könnt Ihr mich gern begleiten.«
»Nein danke, Dottore«, sagte ich, »Ich habe etwas anderes zu tun.«
Nachdem ich die zweite Nacht in seinem Haus verbracht hatte, lud der Doktor mich morgens zu einem gemeinsamen Frühstück ein.
Er sah besser aus als bei unserer ersten Begegnung, vielleicht, weil er am Vortag endlich einmal Gelegenheit gehabt hatte, sich auszuschlafen. Dennoch sprach er den Speisen kaum zu, was mich dazu verleitete, ebenfalls nur wenig zu essen. Unser Gespräch drehte sich hauptsächlich um seinen Kampf gegen die Pestilenz, den er, wie er meinte, auf ganzer Linie verlor. »Wisst Ihr«, sagte er, »ich habe oft daran gedacht, nicht mehr hinauszugehen und den Kranken zu helfen, denn sie sterben so oder so. Aber dann sage ich mir wieder, wer nicht wenigstens versucht, ein Leben zu retten, der ist es nicht wert, Arzt genannt zu werden. Also bemühe ich mich immer aufs Neue, und manchmal, ganz selten nur, gelingt es mir, der Pest ihr Opfer zu entwinden.«
»Ich verstehe Eure Resignation, Dottore, aber ich beneide Euch trotzdem. Ich würde die Misserfolge aller Ärzte dieser Welt in Kauf nehmen, nur um einmal selbst Ärztin sein zu dürfen.«
»Sagt so etwas nicht.« Er lächelte. »Nehmt lieber von den Speisen. Ihr habt ja noch gar nichts gegessen.«
»Genauso wie Ihr.«
»Bei mir ist es etwas anderes. Ich bin ein alter Mann, ich brauche nicht mehr viel. Außerdem steht mir die Beerdigung meiner Frau bevor, und ich weiß nicht einmal, ob unser Familiengrab auf der Friedhofsinsel noch existiert.«
»Warum sollte es nicht mehr da sein, Dottore?«
»Ich weiß es nicht. Manchmal denke ich, in Venedig bleibt kein Stein mehr auf dem anderen, und wenn die Geißel Pest ihre Schläge endlich eingestellt hat, wird unsere Stadt gänzlich neu entstehen müssen. Aber nun entschuldigt mich, ich will noch einmal nach meiner Frau sehen, bevor die Träger sie fortbringen.«
»Darf ich Euch begleiten?«
»Aber natürlich.«
Wir gingen zu dem Raum mit der herrlichen Aussicht, in dem die Tote aufgebahrt lag, und der Doktor wirkte sehr gefasst. Doch als wir eintraten, änderte sich das. Auf seinem Gesicht zeigte sich Staunen, dann Zweifel und schließlich große Freude. Seine Frau lag in ihrem grünen Lieblingskleid da und sah wunderschön aus. »Das ist ja nicht zu glauben«, murmelte er. »Wer hat das fertiggebracht?«
»Ich«, sagte ich lächelnd. »Es war ganz einfach, ich habe einmal das Schneiderhandwerk erlernt, müsst Ihr wissen. Der richtige Schnitt, etwas ausgelassener Stoff, ein paar gut gesetzte Nähte, und der letzte Wunsch Eurer Frau konnte in Erfüllung gehen.« Ganz so einfach, wie ich es darstellte, war es allerdings nicht gewesen. Ich hatte mein ganzes Können einsetzen müssen, dazu mein gutes Augenmaß und letztlich auch die schiere Kraft. Anderenfalls wäre es mir trotz Danieles Hilfe nicht gelungen, die vom
Rigor mortis
steifen Glieder der Toten in das Kleid zu zwängen. Aber das alles musste der Doktor nicht wissen.
Er sagte nichts, aber er ging mit leuchtenden Augen auf mich zu und drückte mich an sich. »Ihr könnt gar nicht ermessen, was Ihr für mich getan habt.«
Ich lachte verlegen. »Nun wisst Ihr wenigstens, warum ich eine leidliche Chirurgin bin, Dottore.«
An der Beerdigung auf der Friedhofsinsel nahm ich nicht teil. Ich fand es passender, mich nicht aufzudrängen. Der Doktor sollte die letzten Augenblicke mit seiner Frau allein sein. Wie richtig meine Entscheidung gewesen war, merkte ich, als er mir anschließend versicherte, die stille Zwiesprache mit ihr hätte ihm sehr viel Kraft gegeben. Er habe mit ihr über vieles gesprochen: über den Tag ihres Kennenlernens, die
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