Die Medica von Bologna / Roman
übergeben, doch ich habe begriffen, dass Ihr meine Nähe meiden wollt.«
Ich schwieg und arbeitete weiter.
Er warf eine letzte Handvoll Früchte in meinen Sammelkorb und verließ mich ohne ein weiteres Wort.
In den folgenden Tagen sagte ich mir immer wieder, dass ich keinen Grund hatte, noch einmal zum Buchenhain zu gehen, da Latifs und mein Bedarf an Nüssen gedeckt war. Und doch tat ich es, denn ich redete mir ein, ich könne ein Buch wie die Heilige Schrift nicht in der Wildnis liegen lassen.
Es war ein kalter Morgen im Oktober 1590, weiße Wölkchen verließen beim Atmen meinen Mund, ich fröstelte bei jedem Schritt. Der Bergbach, den ich überqueren musste, hatte an einigen Stellen schon dünnes Eis gebildet, und Rauhreif bedeckte das Gras an seinem Ufer. Ich ging langsam, hielt die Augen offen, um Sebastiano, sollte er mich wieder überraschen wollen, zuvorzukommen. Und in der Tat war ich es dieses Mal, die ihn entdeckte. Er saß auf einem Baumstamm und blätterte in der Bibel. Als ich vor ihn hintrat, blickte er keineswegs überrascht auf.
»Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid …«,
zitierte er lächelnd. »So lese ich es gerade in der Schrift. Matthäus elf, Vers achtundzwanzig. Ich hoffe, es geht Euch gut, Maria?«
»Ich habe nicht damit gerechnet, Euch hier anzutreffen.«
»Habt Ihr das nicht? Nun, ich warte schon die letzten fünf Tage auf Euch, denn ich hoffte, irgendwann würdet Ihr kommen.« Er schlug das Buch zu, stand auf und überreichte es mir mit einer förmlichen Geste.
»Danke«, stotterte ich, denn das, was er gesagt hatte, konnte ich kaum glauben. Sollte er tatsächlich mehrmals aufs Geratewohl in den Wald gegangen sein, nur um mich zu treffen?
»Danke«, sagte ich nochmals, und weil mir sonst nichts einfiel, fügte ich hinzu: »Ich bin keine große Bibelkennerin.«
»Die Schrift ist in der Tat widersprüchlich und in vielerlei Hinsicht nicht wörtlich zu nehmen.«
»Nicht wörtlich zu nehmen? Ist das Euer Ernst?«
Er schmunzelte. »Da habe ich wieder einmal etwas ausgesprochen, das eigentlich nicht ausgesprochen werden darf. Aber einerseits heißt es bei Mose:
Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß,
und andererseits heißt es bei Matthäus:
So dir jemand einen Streich gibt auf die rechte Backe, dem biete auch die linke dar.
Die eine Stelle findet sich im Alten Testament, die andere im Neuen. Da beide Testamente gleichermaßen ihre Gültigkeit haben, frage ich Euch, welche richtig ist?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich auch nicht.«
Sebastianos Art war so entwaffnend, dass ich lachen musste.
»Ihr habt schöne Zähne, Maria.«
»Ich … nun …« Niemals zuvor hatte mir jemand gesagt, ich hätte schöne Zähne.
»Habe ich Euch in Verlegenheit gebracht? Das wollte ich nicht.« Er ergriff meine Hand, gab sie aber sofort wieder frei, als er meinen Widerstand spürte. »Wie kann ich das wiedergutmachen?«
»Ich muss jetzt gehen«, murmelte ich.
»Natürlich. Werdet Ihr in der Bibel lesen?«
»Ja, sicher.« Ohne es zu wollen, fügte ich hinzu: »Ich lese sehr gern.«
»Heißt das, es fehlt Euch an der nötigen Lektüre? Dem kann abgeholfen werden! Was haltet Ihr davon, wenn ich Euch weitere Bücher bringe? Ihr lest sie durch und gebt sie mir danach wieder.«
Nein, wollte ich sagen, doch Sebastianos Angebot war zu verlockend. So sagte ich, wenn auch zögernd: »Vielleicht später einmal.«
Den ganzen Winter über las ich in der Heiligen Schrift. Ich tat es in meiner Höhle, aber auch im Felsendom, wo Latif und ich diesseits und jenseits des Feuers nächtigten. Trotz des gemeinsamen Schlafplatzes war unser Verhältnis etwas abgekühlt, seit er eines Tages während des Essens auf meine Bibel gedeutet und gesagt hatte: »Ich habe Euch nie gefragt, Herrin, wie Ihr an das Buch der Ungläubigen gekommen seid, ich dachte immer, Tasco hätte es Euch gegeben. Aber es war nicht Tasco. Es war der Vikar, dem wir vor vielen Jahren in der Nähe von San Martino begegnet sind. Stimmt’s?«
»Es steht dir nicht zu, die Heilige Schrift als ein Buch der Ungläubigen zu bezeichnen«, hatte ich geantwortet.
»Verzeiht, Herrin, aber Ihr lenkt ab. Das Buch, in dem Ihr dauernd lest, ist von diesem Sebastiano. Ganz vorn auf einer der ersten Seiten habe ich seinen Namenszug entdeckt. Er hat Euch das Buch geschenkt. Warum habt Ihr mir das nicht erzählt?«
Natürlich hatte ich manches Mal daran gedacht, ihm von meinen Treffen mit dem ungewöhnlichen
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