Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
fühle ich mich wieder wohl.‹
Während sie mir diese Geschichte erzählte, sah sie mich nicht ein einziges Mal an, und ihre Stimme klang anders als gewöhnlich. Mir war klar, daß sie log. Ich sagte nichts, starrte nur die Wand an, merkte, wie mir das Herz schwer wurde, und hatte den Kopf voller giftiger Zweifel und Verdächtigungen. Was verbarg meine Frau vor mir? Wohin hatte sie den seltsamen Ausflug gemacht? Ich spürte, daß ich keine Ruhe finden würde, ehe ich das nicht wußte, und doch schrak ich davor zurück, sie noch einmal zu fragen, nachdem sie mich angelogen hatte. Den Rest der Nacht wälzte ich mich im Bett und bildete eine Theorie nach der anderen, jede unwahrscheinlicher als die andere.
Am nächsten Tag hätte ich in die Stadt fahren müssen, aber ich war zu verstört, um mich geschäftlichen Dingen zuwenden zu können. Meine Frau schien so sehr aus der Fassung zu sein wie ich, und an den flüchtigen fragenden Blicken, die sie mir dauernd zuwarf, merkte ich, sie hatte begriffen, daß ich ihre Erklärung nicht glaubte, und nun wußte sie nicht, was sie tun sollte. Während des Frühstücks wechselten wir kaum ein Wort, und anschließend machte ich einen Spaziergang, um in der frischen Morgenluft die Angelegenheit zu überdenken.
Ich ging bis Crystal Palace, verbrachte ungefähr eine Stunde in der Umgebung und war gegen eins wieder in Norbury. Es fügte sich, daß mich mein Weg an dem Landhaus vorüberführte, und ich blieb einen Augenblick stehen, um nach den Fenstern zu blicken und zu sehen, ob sich das seltsame Gesicht wieder zeigte, das mich am Tag zuvor angestarrt hatte. Denken Sie, wie überrascht ich war, Mr. Holmes, als sich die Tür öffnete, da ich dort stand, und meine Frau herauskam!
Sie plötzlich hier vor mir zu sehen verblüffte mich sehr; ich war bei ihrem Anblick sprachlos vor Erstaunen, aber meine Gefühle waren nichts im Vergleich zu dem, was sich auf ihrem Gesicht abspielte, als unsere Blicke sich trafen. Einen Moment schien es mir, daß sie wieder ins Haus verschwinden wollte, dann aber – sie sah wohl ein, daß es nichts nützen würde, sich zu verstecken – lief sie auf mich zu; ihr Gesicht war ganz weiß, und in den Augen stand eine Angst, die das Lächeln um ihren Mund Lügen strafte.
›Hallo, Jack!‹ sagte sie. ›Ich bin hergegangen, um zu sehen, ob ich unseren neuen Nachbarn irgendwie behilflich sein könnte. Was schaust du mich so an, Jack? Du bist doch nicht wütend auf mich?‹ – ›Hier also‹, sagte ich, ›bist du in der Nacht gewesen.‹
›Was meinst du damit?‹ rief sie.
›Du warst hier, da bin ich sicher. Wer sind die Leute, daß du sie um solche Zeit besuchst?‹
›Ich bin noch nie zuvor hier gewesen.‹
›Wie kannst du behaupten, es stimmt nicht, was ich weiß?‹ rief ich. ›Sogar deine Stimme verändert sich, wenn du davon sprichst. Habe ich jemals ein Geheimnis vor dir gehabt? Ich betrete jetzt das Haus und gehe der Sache auf den Grund.‹
›Nein, nein, Jack, um Gottes willen, nicht!‹ keuchte sie in einer unbeherrschten Gefühlsaufwallung. Als ich zur Tür wollte, packte sie mich krampfhaft angestrengt am Ärmel und hielt mich mit Gewalt zurück.
›Ich flehe dich an, Jack, tu es nicht‹, rief sie. ›Ich schwöre, ich werde dir eines Tages alles erklären. Aber wenn du jetzt hineingehst, kann nur Unglück entstehen.‹
Ich wollte sie abschütteln, aber sie hängte sich in wahnsinniger Zudringlichkeit an mich.
›Vertrau mir, Jack!‹ schrie sie. ›Vertrau mir nur dieses eine Mal. Du wirst keinen Grund finden, es zu bereuen. Du weißt, ich würde kein Geheimnis vor dir haben, wenn es nicht zu deinem Besten wäre. Unser ganzes Leben steht auf dem Spiel. Wenn du jetzt mit mir nach Hause gehst, wird alles gut. Wenn du dir Einlaß erzwingst, ist zwischen uns alles aus.‹
Wie sie sich aufführte, das wirkte so ernst und so verzweifelt, daß ich unschlüssig, wie gebannt, vor der Tür stehenblieb.
›Unter einer Bedingung glaube ich dir, nur unter dieser einen Bedingung‹, sagte ich schließlich. ›Die mysteriöse Angelegenheit muß sofort aufhören. Behalte meinetwegen dein Geheimnis für dich, aber du versprichst mir, daß es keine weiteren nächtlichen Besuche geben wird und überhaupt nichts mehr, wovon ich nicht erfahre. Was gewesen ist, will ich vergessen, wenn du mir ver sprichst, daß in Zukunft dergleichen nicht mehr vorkommt.‹
›Ich wußte, du würdest
Weitere Kostenlose Bücher