Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
gekleidet, trug einen grauen Anzug und hielt einen braunen Schlapphut in der Hand. Ich hätte ihn auf dreißig geschätzt, aber in Wirklichkeit war er einige Jahre älter.
»Entschuldigen Sie«, sagte er ziemlich verlegen, »ich hätte wohl klopfen sollen. Ich bin ein wenig durcheinander, das müssen Sie mir zugute halten.« Er strich sich mit der Hand über die Stirn wie einer, der halb benommen ist, und ließ sich dann in einen Sessel fallen.
»Ich sehe, daß Sie ein paar Nächte nicht geschlafen haben«, sagte Holmes in seiner sorglos heiteren Art. »Das greift die Nerven mehr an als Arbeit, sogar mehr als Vergnügen. Darf ich fragen, wie ich Ihnen helfen kann?«
»Ich brauche Ihren Rat, Sir. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Mein ganzes Leben scheint mir zerstört.«
»Sie möchten mich als beratenden Detektiv engagieren?«
»Nicht nur das. Ich möchte Ihre Meinung, die Meinung eines Mannes mit Urteil – eines Mannes von Welt. Ich möchte wissen, was ich als nächstes tun soll. Ich hoffe nur, Sie sind dazu in der Lage.«
Er sprach schnell und stoßweise, und mir kam es vor, als wäre es ihm peinlich zu reden, als müsse er sich dazu zwingen.
»Es ist eine sehr delikate Angelegenheit«, sagte er. »Man spricht nicht gern zu Fremden über Dinge des eigenen Hauses. Es ist schrecklich, die Beziehungen der eigenen Frau zu zwei Männern zu bereden, und dabei habe ich den anderen noch nicht einmal gesehen. Ja, das ist furchtbar. Aber ich bin am Ende meiner Kraft. Ich brauche dringend Rat.«
»Mein lieber Mr. Grant Munro…«, begann Holmes.
Unser Besucher fuhr vom Stuhl hoch. »Wie!« rief er. »Sie kennen meinen Namen?«
»Wenn Sie Ihr Inkognito wahren wollen«, sagte Holmes lächelnd, »würde ich Ihnen empfehlen, Ihren Namen nicht ins Hutfutter schreiben zu lassen, oder Sie sollten wenigstens Leuten, mit denen Sie reden, nicht die Innenseite des Hutes zukehren. Ich wollte aber sagen, mein Freund und ich haben schon so manches seltsame Geheimnis in diesem Zimmer zu hören bekommen und zu unserem Glück mancher geprüften Seele ihren Frieden zurückgeben können. Ich bin sicher, es wird uns auch bei Ihnen gelingen. Dürfte ich Sie bitten, da die Zeit sich als wichtig herausstellen könnte, mir die Tatsachen Ihres Falls ohne Verzögerung mitzuteilen?«
Wieder fuhr sich unser Besucher mit dem Handrücken über die Stirn, als fände er es hart, mit dem Reden zu beginnen. An jeder Geste, jeder Miene erkannte ich, daß er ein zurückhaltender, beherrschter Mann mit einem gewissen Stolz war, der seine Wunden eher verbarg, als sie zu zeigen. Dann begann er plötzlich zu sprechen, und seine geballte Hand vollführte eine ungestüme Bewegung, so als wolle er alle Zurückhaltung in den Wind schlagen.
»Das sind die Tatsachen, Mr. Holmes«, sagte er. »Ich bin verheiratet, seit drei Jahren. All die Zeit haben meine Frau und ich uns so herzlich geliebt und lebten glücklich miteinander wie nur je ein Paar. Wir hatten keine Differenzen, nicht eine, weder im Denken, in Worten, noch im Handeln. Und jetzt, seit letztem Montag, steht plötzlich eine Barriere zwischen uns, und ich fühle, daß es etwas in ihrem Leben und Denken gibt, über das ich sowenig weiß wie bei einer Frau, die auf der Straße an mir vorüberstreift. Wir sind einander entfremdet, und ich will wissen, warum. Eines möchte ich noch versichern, ehe ich fortfahre, Mr. Holmes: Effie liebt mich. In dem Punkte darf es kein Mißverständnis geben. Sie liebt mich von ganzem Herzen und mit ganzer Seele und hat mich nie mehr geliebt als jetzt. Das weiß ich, das fühle ich. Dafür brauche ich keine Gründe anzuführen. Ein Mann weiß, ob eine Frau ihn liebt. Aber nun steht dieses Geheimnis zwischen uns, und ehe es nicht gelüftet ist, können wir nicht wieder sein, die wir früher waren.«
»Bitte, kommen Sie zu den Tatsachen, Mr. Munro«, sagte Holmes etwas ungeduldig.
»Ich werde Ihnen aus Effies Vergangenheit berichten, was ich weiß. Als wir uns kennenlernten, war sie Witwe, eine recht junge Witwe von fünfundzwanzig Jahren. Sie hieß Mrs. Hebron. Sie war nach Amerika ausgewandert und hatte sich in Atlanta niedergelassen, wo sie Mr. Hebron heiratete, einen Rechtsanwalt mit gutgehender Praxis. Sie hatten ein Kind, aber das gelbe Fieber brach aus, und der Mann und das Kind starben daran. Ich habe seinen Totenschein gesehen. Diese Geschehnisse erfüllten sie mit Widerwillen gegen Amerika; sie kam
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