Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2

Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2

Titel: Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Conan Doyle
Vom Netzwerk:
Erlebnis und versuchte meinen Eindrücken auf den Grund zu kommen. Ich hätte nicht sagen können, ob es das Gesicht eines Mannes war oder das einer Frau. Vor allem hat mich die Farbe beeindruckt. Das Gesicht war von einem fahlen, stumpfen Gelb und von einer Starre, die ihm ein erschreckend unnatürliches Aussehen gab. Ich war so beunruhigt, daß ich mich entschloß, die neuen Bewohner etwas näher zu betrachten. Ich ging zur Tür, klopfte, und sofort erschien eine große, hagere Frau mit einem herben, abstoßenden Gesicht.
      ›Was wollen Sie?‹ fragte sie mit nördlichem Akzent.
      ›Ich bin Ihr Nachbar von dort drüben‹, sagte ich und wies in die Richtung meines Hauses. ›Ich habe gesehen, daß Sie gerade einziehen, und so dachte ich, wenn ich Ihnen irgendwie helfen…‹
      ›Wir werden Sie bitten, wenn wir Sie brauchen‹, sagte sie und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Verärgert über die grobe Abweisung, kehrte ich dem Haus den Rücken und ging heim. Den ganzen Abend kamen meine Gedanken nicht los von der Erscheinung am Fenster und von der Grobheit der Frau, obwohl ich bemüht war, an anderes zu denken. Ich beschloß, meiner Frau von alledem nichts zu sagen, denn sie ist reizbar und nervlich überanstrengt, und ich wollte nicht, daß sie die unangenehmen Eindrücke, die ich empfangen hatte, teilen sollte. Dennoch machte ich vorm Einschlafen die Bemerkung, daß das Landhaus nun bewohnt sei. Aber sie antwortete nicht.
      Für gewöhnlich habe ich einen sehr tiefen Schlaf. Meine Familie macht sich schon immer darüber lustig, daß mich nachts nichts wecken könne; in dieser Nacht jedoch – vielleicht verursacht durch die leichte, Aufregung, die das kleine Abenteuer in mir hervorgerufen hatte – schlief ich weit unruhiger als gewöhnlich. Halb im Traum, halb im Wachen wurde mir dunkel bewußt, daß im Zimmer etwas vorging, und allmählich wurde mir klar, daß meine Frau sich angezogen hatte und dabei war, in den Mantel zu schlüpfen und den Hut aufzusetzen. Ich öffnete schon den Mund, um schlaftrunken ein paar Worte des Erstaunens oder des Einwandes gegen diese Vorkehrungen zu solch ungewöhnlicher Stunde zu murmeln. Aber plötzlich erfaßte mein noch müder Blick ihr Gesicht, das vom Licht der Kerze beleuchtet war, und ich verstummte vor Bestürzung. Solch einen Ausdruck hatte ich nie an ihr gesehen, und auch nie geglaubt, daß sie so aussehen könnte. Sie war totenbleich, atmete hastig, blickte, indem sie den Mantel zuknöpfte, verstohlen zum Bett, um festzustellen, ob sie mich geweckt hätte. Dann, da sie glaubte, ich schliefe, schlich sie geräuschlos aus dem Zimmer, und wenig später vernahm ich ein durchdringendes Knarren, das nur von den Angeln der Haustür herrühren konnte. Ich setzte mich im Bett auf und schlug mit den Knöcheln gegen das Bettgestell, mich versichernd, daß ich wirklich wach war. Dann holte ich meine Uhr unter dem Kopfkissen hervor. Es war drei Uhr morgens. Was in aller Welt hatte meine Frau um drei in der Frühe auf der Landstraße zu suchen? Ungefähr zwanzig Minuten wandte ich die Angelegenheit im Geiste um und um und versuchte eine befriedigende Erklärung zu finden. Je mehr ich darüber nachdachte, desto außergewöhnlicher und unerklärlicher erschien sie mir. Ich rätselte noch herum, als ich hörte, wie die Haustür sacht geschlossen wurde und ihre Schritte die Treppe heraufkamen.
      ›Wo warst du, Effie, um Gottes willen‹, fragte ich, als sie eintrat.
      Sie zuckte heftig zusammen und stieß einen unterdrückten Schrei aus, und dieser Schrei und das Zusammenzucken beunruhigten mich mehr als alles andere, denn darin lag ein unbeschreibliches Schuldbewußtsein. Meine Frau war immer freimütig und offen gewesen, und der Anblick, wie sie nun in ihr eigenes Zimmer schlich und aufschrie und zusammenzuckte, wenn ihr Mann sie ansprach, ließ mich erschauern.
      ›Du bist wach, Jack?‹ rief sie und lachte nervös. ›Ich dachte, nichts könnte dich aufwecken.‹
      ›Wo warst du?‹ fragte ich strenger.
      ›Ich wundere mich nicht, daß du überrascht bist‹, sagte sie und öffnete mit zitternden Händen ihren Mantel. ›Ich kann mich nicht erinnern, daß ich je im Leben so etwas getan hätte. Aber mir war, als müßte ich ersticken, und ich bekam ein dringendes Verlangen nach frischer Luft. Ich glaube, ich wäre ohnmächtig geworden, wenn ich nicht hätte nach draußen gehen können. Ich habe ein paar Minuten vor der Tür gestanden, und jetzt

Weitere Kostenlose Bücher