Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
mir vertrauen‹, sagte sie und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. ›Alles soll sein, wie du es willst. Komm fort von hier, bitte, komm mit zu unserem Haus!‹
Sie zerrte noch immer an meinem Ärmel und führte mich weg von dem Landhaus. Im Gehen blickte ich zurück, und da war wieder das fahle, gelbe Gesicht oben im Fenster, und es beobachtete uns. Welche Verbindung konnte zwischen dieser Kreatur und meiner Frau bestehen? Oder zu der plumpen, groben Frau, der ich am Tag zuvor begegnet war? Das war ein ungewöhnliches Rätsel, und ich wußte, ich würde keine Ruhe finden, ehe ich es nicht gelöst hatte.
Danach blieb ich zwei Tage zu Hause, und meine Frau schien sich streng an unsere Abmachung zu halten, denn sie ging, soviel ich weiß, nicht vor die Tür. Doch der dritte Tag brachte ausreichenden Grund zu der Annahme, daß ihr feierliches Versprechen nicht stark genug war, sie dem geheimen Einfluß zu entziehen, der sie aus dem Haus und von der Seite ihres Mannes trieb.
An jenem Tag war ich zur Stadt gefahren, kam aber schon mit dem Zug um zwei Uhr vierzig statt wie üblich erst mit dem um drei Uhr sechsunddreißig zurück. Als ich in die Halle trat, eilte das Dienstmädchen mir mit verstörtem Gesicht entgegen.
›Wo ist Ihre Herrin?‹ fragte ich.
›Ich glaube, sie ist spazierengegangen‹, antwortete sie.
Sofort war ich voller Mißtrauen. Ich lief die Treppe hinauf, um mich zu vergewissern, daß sie nicht im Hause war. Oben warf ich zufällig einen Blick aus dem Fenster, und ich sah, wie das Dienstmädchen, mit dem ich soeben erst gesprochen hatte, über das Feld zum Landhaus rannte. Ich begriff natürlich gleich, was das bedeutete: Meine Frau war hinübergegangen und hatte das Mädchen beauftragt, ihr Bescheid zu sagen, wenn ich nach Hause zurückkommen sollte. Vor Wut kochend, hastete ich nach unten und lief querfeldein, entschlossen, der Sache ein für allemal ein Ende zu machen. Ich sah, wie meine Frau und die Magd über den Weg zurückeilten, hielt aber nicht an, um sie abzupassen. In dem Landhaus war ein Geheimnis verborgen, das einen Schatten auf mein Leben warf. Ich schwor mir, daß es, komme, was wolle, dieses Geheimnis nicht länger geben sollte. Ich klopfte nicht einmal, als ich davorstand, sondern drückte die Klinke nieder und stürzte in den Flur.
Im Erdgeschoß herrschte Stille. In der Küche summte auf dem Feuer ein Wasserkessel, in einem Korb lag behaglich eine große schwarze Katze. Nirgendwo eine Spur der Frau, der ich begegnet war. Ich ging in die Zimmer, aber die waren genauso verlassen. Dann jagte ich die Treppe hinauf, doch in den zwei Räumen, die ich im ersten Stock fand, war ebenfalls niemand. Im ganzen Haus kein Mensch. Die Möbel und die Bilder waren von der gewöhnlichsten und billigsten Sorte, außer in dem Zimmer, an dessen Fenster ich das seltsame Gesicht erblickt hatte. Das war gemütlich, ja elegant eingerichtet, und aller Verdacht, der in mir schwelte, schlug zu wilder Flamme hoch, als ich auf dem Kaminsims eine Fotografie meiner Frau bemerkte, die erst vor drei Monaten in meinem Auftrag gemacht worden war.
Ich blieb so lange, bis ich ganz sicher wußte, daß sich wirklich keiner in dem Haus aufhielt. Dann ging ich, und mein Herz war so schwer wie nie zuvor. Meine Frau kam in die Halle, als ich mein Haus betrat, aber ich war zu erregt und zu zornig, um mit ihr zu sprechen. Ich ließ sie stehen und ging in mein Arbeitszimmer. Doch sie folgte mir, ehe ich die Tür schließen konnte.
›Es tut mir leid, daß ich mein Versprechen gebrochen habe, Jack‹, sagte sie, ›aber ich bin gewiß, du würdest mir vergeben, wenn du alle Umstände kenntest.‹
›Dann erzähle sie mir‹, sagte ich.
›Ich kann nicht, Jack, ich kann nicht!‹ rief sie.
›Bis du mir nicht erklärt hast, wer der Mann ist, der in dem Landhaus wohnt, wer das ist, dem du die Fotografie gegeben hast, wird es kein Vertrauen mehr zwischen uns geben‹, sagte ich, riß mich los und verließ das Haus. Das war gestern, Mr. Holmes, und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen und auch nichts weiter über die seltsame Angelegenheit erfahren. Das ist der erste Schatten über unserer Ehe, und ich bin so erschüttert, daß ich nicht weiß, was ich tun soll. Heute morgen fiel mir plötzlich ein, daß Sie der Mann wären, mir zu helfen. So bin ich hergeeilt, und ich gebe mich bedingungslos in Ihre Hand. Sollte da noch ein Punkt sein, den ich nicht ganz klar
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