Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
geschoben und trug unterm Arm verschiedene Pakete.
»Ein alter Soldat, würde ich sagen«, bemerkte Sherlock.
»Und erst kürzlich demobilisiert«, fügte der Bruder hinzu.
»Wie ich sehe, hat er in Indien gedient.«
»Als Unteroffizier.«
»Royal Artillery, nehme ich an«, sagte Sherlock.
»Und verwitwet.«
»Hat aber ein Kind.«
»Kinder, mein Junge, Kinder!«
»Genug jetzt«, sagte ich lachend, »das geht ein bißchen zu weit.«
»Es ist doch nichts dabei«, antwortete Holmes, »wenn man einen sonnenverbrannten Mann mit zur Schau getragener Autorität als einen Soldaten erkennt, der mehr als ein Gemeiner war und vor kurzem aus Indien gekommen ist.«
»Daß er noch nicht lange von der Truppe weg ist, beweist: er trägt noch immer die Kommißstiefel«, stellte Mycroft fest.
»Er war nicht bei der Kavallerie, aber er trug den Hut schief auf dem Kopf, was man daran erkennt, daß die eine Seite der Stirn heller geblieben ist. Er ist ein Leichtgewicht, und das spricht dagegen, daß er ein Sappeur war. Also hat er bei der Artillerie gedient.«
»Seine Trauerkleidung spricht dafür, daß er einen nahestehenden Menschen verloren hat, und da er selber einkaufen geht, sieht es so aus, als ob es seine Frau war. Er hat Sachen für Kinder gekauft. Sehen Sie die Klapper? Das deutet darauf hin, daß eines noch sehr klein ist. Vielleicht starb die Frau im Kindbett. Der Umstand, daß er ein Bilderbuch unterm Arm trägt, läßt darauf schließen, daß noch ein zweites Kind vorhanden ist, das Aufmerksamkeit verlangt.«
Ich fing an zu begreifen, was mein Freund gemeint hatte, als er sagte, sein Bruder besitze eine sogar noch schärfere Beobachtungsgabe als er. Er schaute zu mir herüber und lächelte. Mycroft nahm eine Prise Schnupftabak aus einer Schildpattdose und wischte sich die heruntergefallenen Stäubchen mit einem großen rotseidenen Taschentuch vom Rock.
»Übrigens, Sherlock«, sagte er, »ich habe da etwas ganz nach deinem Herzen – ein äußerst ungewöhnliches Problem, das man meinem Urteil anheimgestellt hat. Ich bringe nicht die Energie auf, mich der Sache zu widmen, ich täte es ohnehin nur halbherzig. Aber sie hat mir zu einigen angenehmen Spekulationen verholfen. Wenn du die Fakten hören möchtest…«
»Mein lieber Mycroft, es wäre mir ein Vergnügen.«
Der Bruder schrieb etwas auf ein Blatt aus seinem Notizbuch, klingelte und gab es dem Kellner.
»Ich habe Mr. Melas gebeten, herzukommen«, sagte er. »Er wohnt eine Etage über mir, wir sind flüchtig miteinander bekannt, und das hat ihn bewogen, sich in seiner Bestürzung an mich zu wenden. Mr. Melas ist, soviel ich weiß, Grieche von Geburt und ein hervorragender Sprachkenner. Er verdient seinen Unterhalt zum Teil als Dolmetscher bei Gericht, zum Teil als Fremdenführer für wohlhabende Orientalen, die in den Hotels in der Northumberland Street absteigen. Aber ich glaube, ich überlasse es besser ihm, seine bemerkenswerten Erlebnisse zu erzählen.«
Wenige Augenblicke später gesellte sich ein kleiner, kräftig gebauter Mann zu uns, dessen olivfarbenes Gesicht und kohlschwarzes Haar den Südländer auswiesen, wenn er auch wie ein gebildeter Engländer sprach. Er schüttelte Sherlock Holmes heftig die Hand, und seine Augen funkelten vor Vergnügen, als er erfuhr, der Spezialist sei begierig, seine Geschichte zu hören.
»Ich glaube nicht, daß die Polizei mir dieses Erlebnis abnehmen wird – nein, wirklich nicht«, sagte er mit klagender Stimme. »Weil sie noch nie so etwas gehört haben, denken sie, es gibt so etwas nicht. Aber ich werde nicht mehr mit leichtem Herzen leben, ehe ich nicht weiß, was aus dem armen Mann mit dem Pflaster im Gesicht geworden ist.«
»Ich bin ganz Ohr«, sagte Sherlock Holmes.
»Heute ist Mittwoch«, sagte Mr. Melas, »also war es Montagabend – erst vor zwei Tagen, verstehen Sie? –, als das alles passierte. Ich bin Dolmetscher, wie Ihnen mein Nachbar vielleicht bereits erzählt hat. Ich dolmetsche in allen Sprachen – oder doch in fast allen –, aber da ich Grieche von Geburt bin, fühle ich mich dieser Sprache besonders verbunden. Seit vielen Jahren bin ich der wichtigste Griechischdolmetscher in London, und mein Name ist in den Hotels sehr bekannt.
Nicht selten schickt man zu ungewöhnlicher Zeit nach mir: in Schwierigkeiten geratene Fremde oder Reisende, die spät angekommen sind, benötigen meine Dienste.
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