Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
des Detektivs damit beginnen und auch damit enden würde, von einem Sessel aus zu schlußfolgern, wäre mein Bruder der größte Kriminalist, den es je gab. Aber er hat keinen Ehrgeiz und keine Energie. Er würde nicht einen Fingerbreit von seinem Weg abweichen, um seine Lösungen an der Wirklichkeit zu verifizieren, und sich lieber eine falsche Auffassung nachsagen lassen, als sich der Mühe zu unterziehen, die Richtigkeit seiner Gedanken zu beweisen. Immer wieder habe ich ihm ein Problem vorgetragen und eine Erklärung erhalten, die sich hinterher als richtig herausgestellt hat. Dennoch ist er absolut unfähig, die praktischen Arbeiten zu leisten, die bewältigt werden müssen, ehe man einen Fall vor einen Richter oder eine Jury bringen kann.«
»Dann ist das also nicht sein Beruf.«
»Nicht im geringsten. Was für mich den Lebensunterhalt bedeutet, ist für ihn nur das Stekkenpferd eines Dilettanten. Er hat eine besondere Begabung für Zahlen und prüft in irgendeiner Regierungsbehörde die Bücher. Mycroft wohnt in der Pall Mall, und jeden Morgen geht er um die Ecke in die Whitehall und denselben Weg abends wieder nach Hause. Jahraus, jahrein ist das seine einzige sportliche Betätigung, und man sieht ihn nirgendwo sonst, außer noch im Diogenes-Club, der seiner Wohnung gegenüberliegt.«
»Ich erinnere mich nicht, von einem Club dieses Namens gehört zu haben.«
»Das glaube ich Ihnen. Es gibt in London viele Männer, die – aus Schüchternheit oder Misanthropie – keinen Anschluß an Menschen finden wollen. Dennoch haben sie nichts gegen bequeme Sessel und die neusten Nummern der Zeitschriften. Zu ihrer Annehmlichkeit ist der Diogenes-Club gegründet worden, und in ihm versammeln sich nur die ungeselligsten und am wenigsten für ein Clubleben geeigneten Männer der Stadt. Keinem Mitglied ist es erlaubt, auch nur im geringsten Notiz von einem anderen zu nehmen. Außer im Raum für Gäste sind Gespräche unter keinen Umständen erlaubt, und drei Verstöße gegen dieses Gesetz, wenn sie dem Komitee bekannt werden, machen den Betroffenen reif für den Ausschluß. Mein Bruder ist einer der Gründer des Clubs, und ich habe die Atmosphäre dort als sehr angenehm empfunden.«
Unter diesem Gespräch kamen wir von St. James her in die Pall Mall. Sherlock Holmes hielt, nicht weit vom Carlton-Club entfernt, an einer Haustür und trat in die Halle, nachdem er mich zu sprechen gewarnt hatte. Durch die verglaste Tür konnte ich einen Blick in einen großen, luxuriösen Raum werfen, in dem eine beträchtliche Anzahl von Männern herumsaß und Zeitung las, jeder in seinem Winkel. Holmes führte mich in einen kleineren Raum, das Gästezimmer, dessen Fenster auf die Pall Mall schauten, ließ mich dort für eine Minute allein und kam dann in Begleitung eines Mannes zurück, der nur sein Bruder sein konnte.
Mycroft Holmes war gedrungen und viel größer als Sherlock. Sein Körper war korpulent, doch sein Gesicht, obwohl auch massig, hatte etwas von der Ausdrucksschärfe bewahrt, die das seines Bruders so bemerkenswert machte. Die eigentümlich wäßrig-graufarbenen Augen schienen beherrscht von dem geistesabwesenden, nach innen gerichteten Blick, den ich bisher nur bei Sherlock beobachtet hatte, wenn er alle seine Kräfte anspannte.
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Sir«, sagte er und streckte mir eine breite, flache Hand entgegen, die wie die Flosse eines Seehunds aussah. »Seit Sie Sherlocks Biograph geworden sind, höre ich überall von ihm. Übrigens habe ich dich letzte Woche erwartet, du wolltest doch mit mir den Manor-House-Fall besprechen. Mir war, als überstiege er ein bißchen deine Kräfte.«
»Nein, ich habe ihn gelöst«, sagte mein Freund lächelnd.
»Es war natürlich Adams, oder?«
»Ja, es war Adams.«
»Dessen war ich mir von Anfang an sicher.« Die beiden setzten sich an das Erkerfenster des Gästezimmers. »Das ist der ideale Ort für jeden, der die Menschen studieren will«, sagte Mycroft. »Sieh dir nur diese großartigen Typen an! Die beiden Männer zum Beispiel, die auf uns zukommen.«
»Der Markör und der andere?«
»Eben die. Was denkst du von dem andern?«
Die beiden Männer waren dem Fenster gegenüber stehengeblieben. Ein bißchen Kreidestaub oberhalb der Westentasche war für mich das einzige, das auf Billard hinwies. Der neben dem Markör war ein sehr kleiner, dunkel gekleideter Bur sche; er hatte den Hut in den Nacken
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