Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
können, aber da ging plötzlich die Tür auf, und eine Frau betrat den Raum. Ich sah sie nicht deutlich genug, um mehr sagen zu können, als daß sie groß und anmutig war, schwarzes Haar hatte und ein weites weißes Gewand trug.
›Harold!‹ sagte sie; sie sprach gebrochen englisch. ›Ich mochte nicht länger draußen bleiben. Da oben ist es so einsam, und… Mein Gott, das ist ja Paul!‹
Diese letzten Worte sagte sie auf griechisch, und im selben Moment riß sich der Mann mit einer krampfhaften Anstrengung das Pflaster vom Mund, schrie: ›Sophie! Sophie!‹ und stürzte in die Arme der Frau. Ihre Umarmung indes währte nur einen Augenblick, denn der jüngere Mann ergriff die Frau und stieß sie aus dem Zimmer, während der ältere sein geschwächtes Opfer leicht über wältigte und durch die andere Tür hinauszerrte. Für kurze Zeit war ich allein gelassen, und ich sprang auf, in der vagen Hoffnung, ich könnte irgendwie dahinterkommen, in was für einem Haus ich mich befand. Glücklicherweise hatte ich noch keinen Schritt getan, als ich den älteren Mann in der Tür stehen sah, den Blick auf mich gerichtet.
›Das genügt, Mr. Melas‹, sagte er. ›Wie Sie bemerkt haben, sind Sie von uns in einer höchst privaten Angelegenheit ins Vertrauen gezogen worden. Wir hätten Sie nicht damit belästigt, wenn nicht ein Freund von uns, der griechisch spricht und diese Verhandlungen begonnen hat, gezwungenermaßen in den Osten zurückkehren mußte. Also war es nötig, jemanden zu finden, der statt seiner dolmetscht, und glücklicherweise hörten wir von Ihren Fähigkeiten.‹
Ich verbeugte mich.
›Hier sind fünf Sovereigns‹, sagte er, indem er auf mich zukam, ›die, wie ich hoffe, als Honorar ausreichen. Aber denken Sie daran‹, fügte er hinzu, stieß mich leicht gegen die Brust und lachte nervös, ›wenn Sie einer Menschenseele etwas verraten, auch nur einer einzigen, dann möge Gott sich Ihrer armen Seele erbarmen.‹
Ich kann Ihnen den Abscheu und die Angst nicht beschreiben, die dieser unbedeutend aussehende Mann in mir auslöste. Jetzt, da das Licht der Lampe auf ihn fiel, sah ich ihn deutlicher. Sein Gesicht war blaß, sein Bart ungepflegt. Wenn er sprach, schob er den Kopf vor, und seine Augenlider und seine Lippen zuckten ununterbrochen, als hätte er den Veitstanz. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß auch das seltsame kurze Lachen Symptom eines Nervenleidens sei. Der Schrecken, den sein Gesicht ausströmte, lag in seinen Augen, die stahlgrau waren und kalt blickten und in deren Tiefen eine böse, unerbittliche Grausamkeit lauerte.
›Ich erfahre es, wenn Sie über Ihr Erlebnis sprechen‹, sagte er. ›Wir haben unsere eigenen Methoden, uns zu informieren. Die Kutsche wartet, und mein Freund wird Sie auf den Weg bringen.‹
Man trieb mich durch die Halle und in den Wagen, und wieder konnte ich einen kurzen Blick auf Bäume und einen Garten werfen. Mr. Latimer folgte mir auf den Fersen, und wortlos nahm er mir gegenüber Platz. Schweigend legten wir eine nicht abzuschätzende Strecke zurück, bis die Kutsche schließlich, kurz nach Mitternacht, anhielt.
›Sie steigen hier aus, Mr. Melas‹, sagte mein Begleiter. ›Es tut mir leid, Sie so weit entfernt von Ihrer Wohnung absetzen zu müssen, aber mir bleibt keine andere Wahl. Jeder Versuch, dem Wagen zu folgen, kann nur böse für Sie enden.‹
Er öffnete den Schlag, während er das sagte, und ich hatte kaum Zeit, abzuspringen, als der Kutscher auch schon das Pferd mit der Peitsche bearbeitete und das Gefährt davonrasselte. Verwundert blickte ich um mich. Ich stand auf einer Art Gemeindeweide, auf der überall Stechginsterbüsche wuchsen. In der Ferne sah ich die Silhouette einiger Häuser, in denen hie und da Licht brannte. Auf der anderen Seite erblickte ich die roten Signallampen der Eisenbahn.
Die Kutsche war bereits außer Sicht. Da stand ich nun und schaute umher und fragte mich, wo ich wohl sein mochte, als aus dem Dunkel eine Gestalt auf mich zukam. Bald erkannte ich, daß es ein Eisenbahner war.
›Können Sie mir sagen, wo ich bin?‹ fragte ich.
›Hier ist Wandsworth‹, sagte er.
›Bekomme ich von hier aus einen Zug nach London?‹
›Wenn Sie ungefähr eine Meile gehen, bis Clapham Junction‹, antwortete er, ›erwischen Sie gerade noch den letzten Zug zur Victoria Station.‹
Das war also das Ende meines Abenteuers, Mr. Holmes. Ich weiß
Weitere Kostenlose Bücher