Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
Deshalb war ich nicht überrascht, als am Montagabend ein Mr. Latimer, ein sehr schick gekleideter junger Mann, in meiner Wohnung erschien und mich bat, ihn in einer Kutsche, die vor der Tür stand, zu begleiten. Ein griechischer Freund sei Geschäfte halber zu ihm gekommen, und die Dienste eines Dolmetschers seien unumgänglich, da der Fremde nichts als seine Muttersprache spreche. Er gab mir zu verstehen, sein Haus liege ziemlich weit entfernt, in Kensington, und er schien in großer Eile zu sein, denn er schob mich schnell in die Droschke, als wir auf die Straße traten.
Ich sage, in eine Droschke, aber mir kamen bald Zweifel, ob es nicht eine private Equipage war, in der ich mich befand. Der Wagen war geräumiger als die gewöhnlichen Londoner Rumpelkisten, und die Ausstattung, obwohl abgenutzt, zeugte von gediegenem Reichtum. Mr. Latimer setzte sich mir gegenüber; wir fuhren durch Charing Cross und dann die Shaftesbury Avenue hinunter. Als wir die Oxford Street erreicht hatten, wagte ich die Bemerkung, daß wir uns auf einem Umweg nach Kensington befänden, doch ich stockte, weil ich das seltsame Gebaren meines Gefährten bemerkte.
Er zog einen bleigefüllten Totschläger aus der Tasche und ließ ihn einige Male hin- und herschnellen, so als prüfe er Gewicht und Schlagkraft. Dann legte er ihn wortlos neben sich auf den Sitz. Danach schloß er auf beiden Seiten die Fenster, und zu meinem Erstaunen sah ich, daß die Scheiben mit Papier beklebt waren, als ob verhindert werden sollte, daß ich einen Blick nach draußen warf.
›Es tut mir leid, Ihnen die Aussicht nehmen zu müssen, Mr. Melas‹, sagte er. ›Aber mir ist nicht daran gelegen, daß Sie wissen, wo das Haus liegt, zu dem wir fahren. Es wäre mir unangenehm, wenn Sie den Weg dorthin wiederfänden.‹
Wie Sie sich vorstellen können, verblüffte mich diese Anrede vollends. Mein Begleiter war ein starker, breitschultriger junger Bursche, und ich hätte, von der Waffe abgesehen, in einem Kampf gegen ihn nicht die geringste Chance gehabt.
›Das ist ein seltsames Benehmen, Mr. Latimer‹, stotterte ich. ›Wissen Sie, daß das ungesetzlich ist, was Sie da tun?‹
›Ich habe mir eine Art Freiheit herausgenommen‹, sagte er, ›aber wir werden Ihre Dienste reichlich vergelten. Doch muß ich Sie warnen, Mr. Melas. Wenn Sie im Verlauf dieser Nacht ein einziges Mal Alarm schlagen oder etwas unternehmen, das nicht in meinem Interesse liegt, werden Sie zu spüren bekommen, wie ernst ich es meine. Halten Sie sich bitte vor Augen, daß niemand weiß, wo Sie sind, und daß Sie sich, ob in der Kutsche oder im Haus, in meiner Gewalt befinden.‹
Er sprach ruhig, aber weil er so krächzte, klangen die Worte drohend. Ich saß still und fragte mich, was um alles in der Welt der Grund für diese außergewöhnliche Entführung sein mochte. Aber worum es sich auch handelte, mir wurde völlig klar, daß es nutzlos sei, mich zu widersetzen; ich konnte nur abwarten.
Wir fuhren fast zwei Stunden, ohne daß ich den mindesten Anhalt bekam, wohin die Reise ging. Manchmal deutete das Rasseln darauf hin, daß wir über eine gepflasterte Straße fuhren, manchmal ließ sanfte, ruhige Fahrt auf Asphalt schließen. Aber abgesehen von den sich ändernden Geräuschen gab es nichts, was mich auch nur im entferntesten vermuten lassen konnte, wo wir uns befanden. Das Papier auf den Fenstern war lichtundurchlässig, und vor der Vorderscheibe hing ein blauer Vorhang. Viertel nach sieben waren wir aus der Pall Mall abgefahren, und ein Blick auf meine Uhr zeigte mir, daß es zehn vor neun war, als wir schließlich anhielten.
Mein Begleiter ließ ein Fenster herunter, und ich konnte einen Blick auf einen niedrigen gewölbten Toreingang werfen, über dem eine Lampe brannte. Das Tor wurde geöffnet, als ich aus der Kutsche stieg, und ehe ich das Haus betrat, bot sich mir die Gelegenheit, einen flüchtigen Eindruck von einem Rasen und von Bäumen, die rechts und links von mir standen, zu gewinnen. Ob das Land Privatbesitz war oder öffentliches Eigentum, ist mehr, als ich sagen kann.
Drinnen brannte eine gefärbte Gaslampe, doch sie war so niedrig gedreht, daß ich wenig von der Halle erkannte; ich bemerkte nur, daß sie ziemlich groß war und daß Bilder an den Wänden hingen. Im schwachen Licht konnte ich ausmachen, daß die Person, die das Tor geöffnet hatte, ein kleiner, schäbig aussehender Mann mittleren Alters mit runden Schultern war. Als
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