Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
Zwischenzeit war Scotland Yard alarmiert, und Mr. Forbes, der Detektiv, kam sofort und ging den Fall mit großer Tatkraft an. Wir mieteten einen Hansom, und eine halbe Stunde später erreichten wir die Adresse, die der Pförtner mir gegeben hatte. Eine junge Frau öffnete, und es stellte sich heraus, daß es sich um Mrs. Tangeys älteste Tochter handelte. Ihre Mutter war noch nicht nach Hause gekommen, und wir wurden ins Wohnzimmer gebeten. Etwa zehn Minuten später klopfte es an der Tür, und hier begingen wir den einen großen Fehler, der auf mein Konto kommt. Anstatt selber die Tür zu öffnen, ließen wir zu, daß das Mädchen es tat. Wir hörten sie sagen: ›Mutter, da warten zwei Männer, die mit dir sprechen wollen‹, und einen Moment später hörten wir, wie jemand durch den Korridor lief. Forbes riß die Tür auf, und wir stürzten in die nach hinten liegende Küche. Aber die Frau war schon vor uns dort und starrte uns mit wütenden Augen an; dann erkannte sie mich wieder, und ein Ausdruck höchsten Erstaunens legte sich über ihr Gesicht.
›Wenn das nicht Mr. Phelps aus dem Amt ist!‹ rief sie.
›Na, na, was haben Sie denn geglaubt, wer wir sind, als sie vor uns davonliefen?‹ fragte mein Begleiter.
›Ich dachte, Sie sind der Gerichtsvollzieher‹, sagte sie. ›Wir haben nämlich eine kleine Unstimmigkeit mit einem Händler.‹
›Das ist nicht gut genug ausgedacht‹, entgegnete Forbes. ›Wir haben Grund, anzunehmen, daß Sie ein wichtiges Dokument im Außenministerium stahlen und daß Sie nun hier in die Küche gelaufen sind, um es loszuwerden. Sie müssen zu einer Untersuchung mit uns nach Scotland Yard kommen.‹
Sie widersetzte sich und protestierte vergebens. Eine Kutsche fuhr vor, und wir fuhren zu dritt in die Stadt zurück. Zuvor hatten wir die Küche und besonders den Herd daraufhin abgesucht, ob sie sich der Papiere in dem Augenblick, da sie allein gewesen war, entledigt hatte. Aber wir fanden weder Asche noch Papierfetzen. In Scotland Yard überstellten wir sie gleich einer weiblichen Angestellten zur Leibesvisitation. In lähmender Ungewißheit erwartete ich ihren Bericht. Doch sie hatte keine Spur von den Papieren entdeckt.
Zum erstenmal überfiel mich der Schrecken meiner Lage mit voller Kraft. Bis jetzt hatte ich gehandelt, und das hatte das Nachdenken gedämpft. Ich war so sehr davon überzeugt gewesen, den Vertrag sofort zurückzubekommen, daß ich nicht darüber nachgedacht hatte, was geschehen würde, wenn das nicht einträfe. Aber nun konnte nichts mehr unternommen werden, und ich hatte Muße, mir meine Lage vor Augen zu führen. Es war furchtbar! Watson könnte Ihnen erzählen, was für ein nervöser, sensibler Junge ich in der Schule gewesen bin. Das ist so meine Natur. Ich dachte an meinen Onkel und an seine Ministerkollegen, an die Schande, die ich über ihn gebracht hatte, an mich selbst und an alle diejenigen, die mit mir verbunden sind. Wenn ich nun das Opfer eines ungewöhnlichen Ereignisses geworden war? Wo diplomatische Interessen auf dem Spiel stehen, gibt es für außerordentliche Geschehnisse dieser Art keinen Rabatt. Ich war ruiniert, schändlich, hoffnungslos ruiniert. Ich weiß nicht, was ich tat. Wahrscheinlich machte ich eine Szene. Ich erinnere mich dunkel, daß sich eine Gruppe Amtspersonen um mich drängte, und man versuchte, mich zu beruhigen. Einer von ihnen fuhr mich zur Waterloo Station und setzte mich in den Zug nach Woking. Ich glaube, er hätte mich den ganzen Weg nach Hause begleitet, wenn nicht Dr. Ferrier, der hier in der Nähe wohnt, mit demselben Zug gefahren wäre. Der Doktor kümmerte sich äußerst freundlich um mich, und das war gut so, denn auf dem Bahnhof hatte ich einen Anfall, und auf dem ganzen Weg nach Hause benahm ich mich wie ein tobender Irrer.
Sie können sich wohl vorstellen, was hier los war, als der Doktor das Haus wachgeklingelt hatte und man mich in einem solchen Zustand vorfand. Der armen Annie und meiner Mutter brach es schier das Herz. Dr. Ferrier hatte auf dem Bahnhof von dem Detektiv gerade soviel gehört, daß er ungefähr berichten konnte, was sich ereignet hatte. Und seine Geschichte besserte nichts. Allen war klar, daß ich lange krank sein würde, und so quartierte man Joseph aus seinem netten Zimmer aus und richtete es als Krankenzimmer für mich ein. Hier, Mr. Holmes, habe ich neun Wochen lang gelegen, bewußtlos in rasendem Nervenfieber. Wenn Miss Harrison nicht gewesen wäre und
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