Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
der Doktor nicht so gut für mich gesorgt hätte, könnte ich jetzt nicht mit Ihnen sprechen. Sie pflegte mich tagsüber, und nachts kümmerte sich eine Krankenpflegerin um mich, denn in meinen Wahn sinnsanfällen war ich zu allem fähig. Langsam wurde mein Kopf klarer, aber mein Gedächtnis ist erst in den letzten drei Tagen völlig zurückgekehrt. Manchmal wünsche ich, das wäre nicht geschehen. Als erstes telegraphierte ich an Mr. Forbes, der den Fall bearbeitet. Er kam und teilte mir mit, daß nicht die Andeutung einer Spur gefunden worden sei, obgleich man alles mögliche unternommen habe. Der Pförtner und seine Frau wurden nach jeder nur denkbaren Methode verhört, ohne daß von dort auch nur ein bißchen Licht in die Sache gekommen wäre. Dann richtete sich der Verdacht der Polizei auf den jungen Gorot, der, wie Sie sich erinnern werden, an jenem Abend Überstunden im Büro machte. Daß er länger geblieben war und einen französischen Namen trägt, waren aber nun wirklich die einzigen Momente, die Verdacht erregen konnten; tatsächlich hatte ich ja nicht mit der Arbeit angefangen, solange er anwesend war, und seine Familie ist zwar hugenottischer Abstammung, aber nach Neigung und Tradition so britisch wie Sie und ich. Es .fand sich nichts, wodurch man ihn mit der Sache in Verbindung bringen konnte, und damit hatte es sein Bewenden. Ich habe Sie rufen lassen, Mr. Holmes, Sie sind meine letzte Hoffnung. Wenn Sie erfolglos bleiben, dann ist es um meine Ehre als auch um meine Stellung für immer geschehen.« Der Kranke sank wieder in die Kissen, erschöpft von der langen Erzählung, und seine Pflegerin goß ihm in ein Glas eine anregende Medizin. Holmes saß schweigend, mit zurückgeworfenem Kopf, die Augen geschlossen, in einer Haltung, die Fremden als Ausdruck von Gleichgültigkeit erscheinen mochte, von der ich aber wußte, daß sie intensives Vertieftsein anzeigte.
»Ihr Bericht war so umfassend«, sagte Holmes schließlich, »daß ich nur noch sehr wenig zu fragen brauche. Eines ist aber noch von größter Wichtigkeit. Hatten Sie jemandem von Ihrer besonderen Aufgabe erzählt?«
»Keinem.«
»Auch nicht zum Beispiel Miss Harrison?«
»Nein. In der Zeit, die zwischen der Entgegennahme und der Ausführung des Auftrags lag, war ich nicht in Woking.«
»Und mit keinem von Ihrer Familie sind Sie zufällig zusammengetroffen?«
»Mit keinem.«
»Weiß jemand von Ihren Angehörigen in Ihrem Amt Bescheid?«
»O ja; alle sind schon einmal dort gewesen.«
»Aber wenn Sie mit niemandem über den Vertrag gesprochen haben, sind solche Fragen unerheblich«
»Ich habe nichts gesagt.«
»Was wissen Sie über den Pförtner?«
»Nichts, nur, daß er ein alter Soldat ist.«
»Welches Regiment?«
»Coldstream Guards, wie ich hörte.«
»Danke. Zweifellos kann ich von Forbes Einzelheiten erfahren. Die Behörden sind hervorragend, wenn es gilt, Fakten zusammenzutragen, wenn sie sie auch nicht immer zu ihrem Vorteil nutzen. Wie wunderschön doch so eine Rose ist!«
Er ging an der Couch vorüber zum offenen Fenster, hielt eine welkende Moosrose hoch und betrachtete die reizende Farbmischung von Karmesinrot und Grün. Das war für mich ein neuer Zug seines Charakters, denn ich hatte nie zuvor bemerkt, daß er Objekten der Natur lebhafte Aufmerksamkeit entgegenbrachte.
Er stand mit dem Rücken an den Fensterladen gelehnt.
»Es gibt nichts«, sagte er, »das Deduktion so nötig hätte wie die Religion. Der Denker vermag sie zu einer exakten Wissenschaft auszubauen. Für mich liegt die höchste Gewißheit von der Größe der Vorsehung in den Blumen. Alles andere – unsere Fähigkeiten, unsere Sehnsüchte, unsere Nahrungsmittel – ist notwendig als Voraussetzung für unsere Existenz. Aber diese Rose ist etwas Außergewöhnliches. Ihr Geruch und ihre Farbe dienen dazu, das Leben schöner zu machen, sind nicht seine Bedingung. Nur Größe kann das Besondere hervorbringen, und so sage ich denn, daß wir viel von den Blumen erhoffen dürfen.«
Percy Phelps und seine Pflegerin wechselten während dieser Darlegung erstaunte Blicke, und in ihren Gesichtern stand deutlich Enttäuschung geschrieben. Die Rose in der Hand, war Holmes in Träumerei versunken. Nach einigen Minuten riß die junge Dame ihn aus seinem Sinnen.
»Besteht Ihrer Meinung nach Aussicht, das Geheimnis zu lösen, Mr. Holmes?« fragte sie mit einem Anflug von Schärfe in der
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